Geschichten

Trotz COVID-19: Diese «alten» humanitären Krisen bestehen weiterhin

Wo humanitäre Krisen in Vergessenheit geraten

Die Idee zu diesem Bericht entstand bereits im Januar 2020. Ziel war es, unsere Leserinnen und Leser über vergessene Krisen und Notsituationen zu informieren. Weltweit halten zahlreiche Kriege und Konflikte seit Jahren an – doch in den Medien werden sie kaum thematisiert.

Innert weniger Wochen hat sich unser Leben von Grund auf verändert. Wer hätte das damals geahnt? Schlagzeile um Schlagzeile scheinen nur noch einem einzigen Thema gewidmet zu sein: dem Coronavirus. Ob vorübergehend oder dauerhaft, COVID-19 wirkt sich schon jetzt in drastischer Weise auf unseren Alltag aus.

Auch für die bedürftigen Bevölkerungsgruppen, mit denen wir arbeiten, ist das Coronavirus eine besorgniserregende neue Realität. Die Pandemie ist eine zusätzliche Belastung für Menschen, die ohnehin Tag für Tag mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert sind.

Syrische Flüchtlinge harren seit über neun Jahren in Siedlungen aus, die Rohingya in Bangladesch versuchen sich von der jahrzehntelangen Unterdrückung in Myanmar zu erholen, und Familien aus der DR Kongo haben sich dem Kampf gegen Ebola tapfer gestellt. Dies sind nur einige Beispiele für Notsituationen in der Welt, von denen die Allgemeinheit derzeit nur wenig mitbekommt.

Prekäre Lebensumstände machen Menschen besonders anfällig für Infektionskrankheiten – auch COVID-19. Medair und andere Hilfsorganisationen setzen daher alles daran, die Ausbreitung des Virus in gefährdeten Regionen einzudämmen.

Wie steht es momentan um diese anderen Krisen?

Konflikte und Katastrophen sind der Grund für unsere internationalen Hilfseinsätze. COVID-19 ist für bedürftige Bevölkerungsgruppen eine enorme Bedrohung – doch das bedeutet nicht, dass «alte» Krisen nachgelassen haben. Im Gegenteil: Sie verschärfen sich durch die Ausbreitung des Coronavirus zusätzlich.

Von unseren Kolleginnen und Kollegen wollten wir wissen, warum bestehende Krisen nach wie vor als Notsituationen einzustufen sind. Mehr denn je gilt es heute, Betroffene nicht zu vergessen.*

AFGHANISTAN: Wo soll ich nur anfangen?

Ein Grossvater mit seinem Enkel, der wegen mittelschwerer akuter Unterernährung erfolgreich behandelt wurde. Zentrales Hochland, Afghanistan.

In Afghanistan spielen sich zahlreiche Krisen gleichzeitig ab. Wo soll ich nur anfangen? Die meisten Menschen kennen die Konflikte in Afghanistan aus den Nachrichten. Oft ist dies aber nur ein flüchtiger Blick auf eine viel tiefgreifendere Geschichte, die dahintersteht.

 

Nur selten wird berichtet, welche verheerenden Auswirkungen der Konflikt und die vielen Naturkatastrophen für die Menschen in Afghanistan haben. Besonders hart trifft es die Jüngsten. In diesem Jahr werden 25 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes auf humanitäre Hilfe angewiesen sein, insgesamt 9 von 38 Millionen Menschen. Über die Hälfte von ihnen sind Kinder. Den Familien fehlt oft der Zugang zu ausgewogener Nahrung: 41 Prozent der Kinder unter fünf Jahren in Afghanistan leiden an Wachstumsstörungen bedingt durch Unterernährung – damit verzeichnet das Land in diesem Bereich eine der höchsten Raten weltweit.

 

Als Organisation verfolgen wir einen ganzheitlichen Ansatz und gehen die verschiedenen Notlagen in den Gemeinschaften im Rahmen unserer Projekte gezielt an. So entsenden wir zum Beispiel mobile Ernährungsteams in betroffene Dörfer, um unterernährte Mütter und Kinder zu behandeln und schaffen Zugang zu sauberem Trinkwasser, indem wir Wasserstellen bauen oder sanieren. Auch die Errichtung von sanitären Einrichtungen wie Latrinen trägt wesentlich zur Verbesserung der Hygienebedingungen bei. Weiter schulen wir Frauen im Anlegen eigener Gemüsegärten, damit sich ihre Familien ausgewogener ernähren können. Und in besonders von Dürre betroffenen Regionen verteilen wir Saatgut an Landwirte, damit ihre Erträge gesichert sind. Geldleistungen helfen ihnen zudem, die Zeit bis zur nächsten Ernte zu überbrücken.

Anna C., Leiterin des Landesprogramms von Medair in Afghanistan

 

Rohingya-Krise: Warten auf die Rückkehr

Eine Rohingya-Familie vor ihrer Unterkunft im Flüchtlingslager Kutupalong, November 2017.

Vor über zwei Jahren musste die Welt mitansehen, wie rund 700 000 Rohingya vor der rohen Gewalt in Myanmar flohen. Angsterfüllt und traumatisiert erreichten viele von ihnen das Nachbarland Bangladesch. Viel mehr als die Kleider, die sie auf der Flucht am Leib trugen, hatten sie nicht dabei. Die meisten hofften auf eine baldige Heimkehr. Doch es kam anders: Im Jahr 2020 harren noch immer unzählige Geflüchtete in dem inzwischen grössten Flüchtlingslager der Welt aus. Über 600 000 Menschen leben auf nur 13 Quadratkilometern zusammen. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Kinder; keines von ihnen sollte unter solchen Umständen aufwachsen müssen.  

Das Leben in Myanmar ist nach wie vor von Unsicherheit geprägt. Bis eine tragfähige Lösung gefunden wird, ist an eine Rückkehr der Rohingya in ihre Heimat noch nicht zu denken. Zurzeit sind sie für ihr Überleben vollständig auf humanitäre Hilfe angewiesen. Zwar können Hilfsorganisationen wie Medair nicht für Frieden und Sicherheit in ihrer Heimat sorgen, aber wir können ihre unmittelbaren Bedürfnisse decken. Wir schaffen Zugang zu Gesundheits- und Ernährungsleistungen für Mütter und Kinder und errichten Unterkünfte, um Familien vor der Witterung zu schützen. Es ist unser Auftrag, die Geflüchteten in dieser unvorstellbar schwierigen Situation mit allen Mitteln zu unterstützen – und sie wissen zu lassen, dass wir sie nicht vergessen haben.

Carl Adams, Leiter des Landesprogramms von Medair in Bangladesch

 

Syrien: Die grösste andauernde Flüchtlingskrise unserer Zeit

Lächelndes Kind in Ost-Amman, Jordanien – 4. Dezember 2019

Wir von Medair Jordanien reagieren im Moment auf die grösste andauernde Flüchtlingskrise unserer Zeit. Unser Auftrag besteht darin, bedürftigen syrischen Flüchtlingen und aufnehmenden Gemeinschaften zu helfen. Ihr Alltag ist von finanzieller Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, Armut und Kinderarbeit geprägt, was unseren Nothilfseinsätzen für die syrischen Flüchtlinge eine besondere Dringlichkeit verleiht.

 

Flüchtlinge in Jordanien haben nach wie vor kaum Zugang zu staatlichen Gesundheitseinrichtungen, z.B. für lebensrettende Operationen oder Entbindungen mit Komplikationen. Unser Gesundheitsteam in Jordanien unterstützt bedürftige Flüchtlinge mit Bargeldhilfe – und schliesst damit eine grosse Lücke in der humanitären Versorgung der Geflüchteten.

Seit Jahren hält die Krise in Syrien an. Dennoch haben sich die Lebensbedingungen der Flüchtlinge kaum verbessert. Zugang zu Bildung, Gesundheitseinrichtungen und angemessenen Unterkünften fehlt den meisten nach wie vor. Auch bezüglich ihres Rechtsstatus und der Arbeitsmöglichkeiten gibt es viele Einschränkungen und Unsicherheiten. Betroffene sind in diesem Ausnahmezustand gefangen und verdienen unsere volle Aufmerksamkeit.

Sarah AlZureikat, Gesundheitsmitarbeiterin

 

Demokratische Republik Kongo: Mehr Probleme, als man sich vorstellen kann

Ein Medair-Fahrzeug fährt durch ein abgelegenes Gebiet der DR Kongo.

Seit 1988 war ich immer wieder in der Demokratischen Republik Kongo im Einsatz und seit 2016 bin ich nun stellvertretende Leiterin des Landesprogrammes von Medair. Unser Büro befindet sich in Goma.

Die DR Kongo ist ein sehr grosses Land, seine Fläche entspricht ungefähr der von ganz Westeuropa. Heute kämpft das Land mit unzähligen Problemen… aber das war nicht immer so: Es gab durchaus eine Zeit von Frieden und relativem Wohlstand, in der die Menschen ohne Sorge ihrer Beschäftigung nachgehen konnten, ohne Angst vor bewaffneten Gruppen. Es herrschte Frieden.

Medair setzt sich dafür ein, das Leid in der Bevölkerung zu lindern. Ich hoffe, dass sich die DR Kongo wieder zu einem stabilen Land entwickelt und dieser Friede zurückkehrt.

Constance Smith, stellvertretende Programmleiterin von Medair in der DR Kongo

 

Südsudan

Im Jahr 2019 impfte unser Nothilfeteam im Südsudan nahezu 300 000 Kinder gegen Masern.

Seit Jahrzehnten hält ein Bürgerkrieg, der sich auf sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens auswirkt, die Bevölkerung des Südsudans in Atem: Nahrungsmittelversorgung, Bildung, Sicherheit und Infrastruktur (z. B. Strassen, Wasserversorgung und Kommunikation), alles ist vom Konflikt betroffen. Zudem führen häufige Dürren und Überschwemmungen zu Hungersnöten; Nahrungsmittelengpässe und Unterernährung sind weit verbreitet. Das Gesundheitssystem ist angeschlagen, und es fehlt überall an lebenswichtigen Medikamenten.

Wie soll eine Schwangere es zur Entbindung rechtzeitig ins Spital schaffen, wenn 70 Prozent der Strassen während der Regenzeit unbefahrbar sind? Und woher rekrutiert man qualifiziertes Gesundheitspersonal, wenn die Menschen jahrelang auf der Flucht und Ausbildungsstätten geschlossen waren?

Der Südsudan hat eine der höchsten Müttersterblichkeitsraten der Welt, und auf 65 574 Einwohner kommt nur eine medizinische Fachkraft. Das Land ist von verschiedenen Notlagen betroffen, und jeder weitere Zwischenfall erschwert es der südsudanesischen Bevölkerung, sich nachhaltig zu erholen.

Caroline Boyd, Projektleiterin

 


 

* Die Zitate und Berichte stammen aus dem Januar 2020

Medair ist eine internationale humanitäre Hilfsorganisation. Wir versorgen Familien, die von Katastrophen, Konflikten und anderen Krisen betroffen sind, mit Nothilfe und unterstützen sie beim Wiederaufbau. Medair ist derzeit in 12 Ländern aktiv und arbeitet in Bangladesch eng mit World Concern zusammen.

Die Inhalte dieses Artikels stammen von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten sowie am internationalen Hauptsitz. Die Meinungen entsprechen ausschliesslich den Ansichten von Medair und damit nicht unbedingt dem offiziellen Standpunkt anderer Hilfsorganisationen.

 

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