Geschichten

Wie man die Gefahr durch Katastrophen mildert

Wie wendet man die Folgen einer Naturkatastrophe ab? 

Genauer gesagt: Wie kann man Überschwemmungen abwehren? 

Diese Frage stellten wir uns im Mai 2021, als die saisonalen Regenfälle das Flüchtlingslager Tunaydbah im sudanesischen Bundesstaat Gedaref überfluteten. Die provisorischen Unterkünfte, in denen viele Geflüchtete lebten, hielten den Fluten nicht stand, und die Strassen in dem Lager waren schlammbedeckt. Der Zugang zu lebenswichtigen humanitären Versorgungsleistungen war eingeschränkt, und das brackige Wasser stellte eine grosse Gefahr für die Ausbreitung von durch Wasser übertragenen Krankheiten dar. 

Zu diesem Zeitpunkt waren wir erst wenige Monaten in dem Lager Tunaydbah tätig. Wir kümmerten uns um die Versorgung von Familien, die vor der Gewalt im benachbarten Äthiopien geflohen waren. Es war bekannt, dass während der saisonalen Regenfälle die Gefahr von Überschwemmungen bestand. Der Boden besteht fast ausschliesslich aus schwarzer Erde, ein lehmartiger Boden, der wenig Wasser aufnimmt. Sobald es regnet wird die Erde extrem rutschig. Dazu kommt, dass es kaum Gefälle gibt und das Wasser nicht abfliessen kann.  

Wie schwerwiegend die Auswirkungen der Überschwemmungen sein konnten, sahen wir mit im Mai 2021 eigenen Augen. Wir wussten, dass wir reagieren mussten, und fragten uns: Wie kann man das Wasser aufhalten? 

Schritt 1: Wir brauchen eine Lösung 

In enger Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen der Gemeinschaft und in Abstimmung mit der Lagerleitung schlugen wir den Bau eines Mikro-Entwässerungssystems vor, das im Falle einer Überschwemmung das Wasser schnell ableiten könnte. Mikro-Drainage-Kanäle würden das Wasser zwischen den Häuserreihen sammeln und in einen zweiten, etwas grösseren Kanal leiten. Dieser zweite Abfluss, der auch das angesammelte Wasser aus anderen Entwässerungskanälen am Strassenrand auffangen würde, würde in primäre Abflüsse ausserhalb des Lagers münden und das Wasser effektiv ableiten. Aufgrund des geringen natürlichen Gefälles im Lager wollten wir den Boden so abstufen, dass das Wasser abfliessen konnte.  

Schritt 2: Zusammenstellung eines Teams von Fachleuten 

Mit unserem Vorschlag im Gepäck trafen wir uns mit einem Team von Freiwilligen aus dem Lager, die die technische Expertise und Erfahrung im Bauwesen mitbrachten. Um sicherzustellen, dass alle im Lager mit einbezogen würden und ihre Fragen und Vorschläge einbringen konnten, boten wir Schulungen zur Durchführung von Gemeinschaftsprojekten an. Dieser Ansatz fördert die Eigenverantwortung der Gemeinschaft und stellt sicher, dass das Wissen und die Ideen der Gemeinschaft in die Massnahmen einfliessen.  

Schritt 3: Rücksprache mit der Gemeinschaft halten und Feedback berücksichtigen 

Mit der Schulung und dem vorgeschlagenen Plan für das Mikro-Entwässerungssystem in der Tasche begannen die Freiwilligen gemeinsam mit Abgesandten aus jedem Viertel des Lagers, den Einsatz zu koordinieren. Die Freiwilligen erläuterte jeder Gruppe die Baupläne und holten Feedback ein. Wir halfen ihnen dabei, das Feedback in das Design der Mikro-Entwässerung einfliessen zu lassen. Sobald wir einen Entwurf hatten, mit dem sowohl die Menschen im Lager als auch unsere Freiwilligen vom Fach einverstanden waren, übergaben wir die Pläne an das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR), das für die allgemeine Verwaltung des Flüchtlingslager Tunaydbah zuständig ist. Nachdem der Entwurf von den UNHCR-Fachleuten für Unterkünfte genehmigt worden war, begannen wir mit dem Bau.  

Schritt 4: Beginn des Baus, Schritt für Schritt 

Nachdem die notwendigen Vorbereitungen abgeschlossen waren, gingen wir mit den Freiwilligen zurück in die einzelnen Viertel des Lagers und heuerten Teams an, die gegen einen fairen Lohn beim Bau der Entwässerung helfen sollten. Wir zeigten ihnen, wie sie die Gräben ausheben, warten und sauber halten konnten. Seite an Seite gruben die Teams jeden Tag zwischen sechs und 12 Metern Entwässerungsgräben. Darunter waren auch reine Frauenteams, denn wir wollten sicherstellen, dass auch sie ein Einkommen haben könnten, um ihre Familien zu versorgen. Am Ende beteiligten sich über 60 Prozent der Frauen in Tunaydbah an dem Projekt.  

Auf Anregung der Gemeinschaft und um mehr Menschen beschäftigen zu können, wechselten die Arbeitsteams alle zwei Wochen. Auf Wunsch der Gemeinschaft bauten wir auch kleine Bambusbrücken über die sekundären und tertiären Abwasserkanäle, damit die Menschen andere Bereiche des Lagers leichter erreichen können. Gleichzeitig setzten wir unsere Arbeit in der Gemeinschaft fort und schulten die Menschen darin, was bei Überschwemmungen getan werden kann und wie sie ihre Unterkünfte schützen und die Entwässerungskanäle instandhalten können.  

Schritt 5: Einen Moment innehalten und das Ergebnis bestaunen 

Alles zusammen haben unsere Teams in der Flüchtlingssiedlung Tunaydbah über 28 500 Meter Entwässerungsgräben gegraben. Das Ergebnis ihrer harten Arbeit? Als der nächste Regen kam, gab es im Lager zu keinen nennenswerten Überschwemmungen, keine Unterkünfte wurden durch Hochwasser beschädigt und es wurden keine Verletzten gemeldet. Obwohl die Idee, ein Mikro-Entwässerungssystem zu bauen, anfangs auf Skepsis stiess, sagten uns später Mitglieder der Gemeinschaft, dass sie es nun zu schätzen wissen. «Als ich das erste Mal von dem Mikrodrainage-Projekt hörte, dachte ich: ‚Was machen die? Das macht doch keinen Sinn’», erklärte uns jemand im Anschluss an den ersten starken Regen nach dem Bau der Entwässerungskanäle. «Jetzt, nachdem die Unterkünfte beim letzten Regen heil geblieben sind, ist allen klar, wie wichtig diese Mikro-Drainagekanäle sind.» 

Projekte wie diese zielen darauf ab, die Auswirkungen einer Katastrophe im Vorfeld zu mildern, anstatt erst im Nachhinein darauf zu reagieren. Die unterstützen Menschen sind weniger verwundbar. Gemeinschaftsbasierte Ansätze bedeuten, dass nach gemeinsamen Lösungen gesucht wird und Menschen ein aktives Mitspracherecht und eine zentrale Rolle bei der Schaffung nachhaltiger humanitärer Interventionen haben                .  

Durch den Bau eines Mikro-Entwässerungssystems in der Flüchtlingssiedlung Tunaydbah konnten einige der mit den Regenfällen verbundenen Folgen gemindert werden. Dazu gehören Schäden an Unterkünften, vorübergehende Einschränkungen beim Zugang von humanitärer Hilfe zum Lager oder die Gefahr von durch Wasser übertragenen Krankheiten. Noch wichtiger aber ist, dass das Projekt von den Menschen selbst geführt, mit lokalem Wissen und Praktiken gebaut und unter Berücksichtigung der Anregungen und Wünsche der Gemeinschaft fertiggestellt wurde.  

Wie mindert man also die Folgen einer Überschwemmung? 

Indem man zusammenspannt. 

 


Wir sind immer auf der Suche nach Fachleuten im Bereich Unterkünfte, die unser Team verstärken. Wenn Sie dazu beitragen möchten, dass Menschen in Not Zugang zu adäquaten Unterkünften haben, und wenn Sie helfen möchten, die Auswirkungen von Katastrophen wie Überschwemmungen zu verringern, dann schauen Sie sich unsere Stellenangebote für Unterkünfte und Infrastruktur an und bewerben Sie sich noch heute. 

 

Die Arbeit von Medair im Sudan wird durch das UN-Flüchtlingshilfswerk, die Glückskette, das Bureau for Humanitarian Assistance von USAID und grosszügige private Spenden ermöglicht. 

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.  

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