Geschichten

Wenn Knochen sich durch Wasser verformen

In einer Bergregion im Jemen schwächt das Wasser die Knochen. Es verformt sie. Es verursacht lebensverändernde Gesundheitsprobleme und finanzielle Belastungen. Es ist eine weitere Tragödie für die Menschen im Jemen, die bereits Unvorstellbares erlebt haben.

Seit sechs Jahren, vier Monaten und ein paar Tagen wütet im Jemen ein Bürgerkrieg, der Leben und Lebensgrundlagen zerstört. Derzeit sind zwei Drittel der Menschen, etwa 20.7 Millionen, auf humanitäre Hilfe angewiesen¹.

 

Die 35-jährige Nehaya aus dem jemenitischen Bezirk Al Dhale’e erklärte: «Das ganze Dorf leidet unter dem verunreinigten Wasser. Es verursacht Krankheiten und Behinderungen bei den Kindern. In jedem Haus im Dorf sind mindestens zwei Kinder krank. Die meisten Kinder haben schwarze Zähne und verformte Hände und Füsse, weil sie das unsaubere Wasser trinken.» Sie fügte hinzu: «Wir leiden schon seit einiger Zeit darunter».

 

Die Wasserquelle ist schon seit fünfzehn Jahren nicht sicher. Im Bergdorf im Bezirk Al Dhale’e liegt der gemessene Fluoridgehalt zehn- bis fünfzehnmal über dem Richtwert. Den Familien bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie geben Unsummen für sauberes Wasser aus weit entfernten Dörfern aus, oder sie trinken das stark mit Fluorid belastete Wasser vor Ort.

 

Kleine Mengen an Fluorid schützen den Zahnschmelz und stärken die Knochen. Sie fördern die Reparatur von Kariesschäden im Frühstadium, verlangsamen die Entwicklung von Karies² und töten kariesverursachende Bakterien ab.

 

Innerhalb sicherer Grenzen hat Fluorid also positive Auswirkungen – aber zu viel des Guten ist immer schlecht. Laut der Weltgesundheitsorganisation erfolgt eine übermässige Fluoridaufnahme in der Regel durch das Konsumieren von hoch fluoridhaltigem Grundwasser. Dies geschieht in warmen Klimazonen, wo der Wasserverbrauch höher ist, oder wo Wasser mit hohem Fluoridgehalt für die Zubereitung von Lebensmitteln oder die Bewässerung von Feldern verwendet wird. Eine erhöhte Fluoridaufnahme über einen längeren Zeitraum kann schädliche Auswirkungen auf das Knochengewebe und die Knochen selbst haben. Sie führt zu Skelettfluorose, die Knochenstruktur verändert und die Beweglichkeit der Gelenke einschränkt. Sie kann bei der Aufnahme von 3 bis 6 mg Fluorid pro Liter auftreten³. Die sogenannte verkrüppelnde Skelettfluorose äussert sich in Bänderverkalkung und brüchigen Knochen². Sie verursacht starke Schmerzen und tritt typischerweise auf, wenn Wasser mit 10 mg pro Liter konsumiert wird³. Danach scheinen sich Knochen zu verformen. In diesem abgelegenen Dorf in den jemenitischen Bergen wurden Werte von 10 bis 15 mg pro Liter Fluorid gemessen. Als sicher gelten 0.5 bis 1.5 mg pro Liter.

Der 60-jährige Samair (rechts) stützt einen Nachbarn Majed, der unter deformierten Knochen leidet.

 

Der Gesundheits- und Ernährungsbeauftragte von Medair erklärt: «Sie [die Skelettfluorose] ist ein Problem der öffentlichen Gesundheit. Sie wird durch zu hohe Werte von Fluorid im Wasser verursacht. Das Problem betrifft alle Kinder und Älteren sowie Tiere. Hier in den Bergen müssen die Menschen tief graben, um an Wasser zu gelangen. Dadurch werden die die von Natur aus Fluorid enthaltenden Gesteinsschichten aufgebrochen und das Wasser mit Fluorid verseucht.»

 

Das überschüssige Fluorid lagert es sich über Jahre hinweg in den Knochen ab. Kinder, deren Knochen und Zähne sich noch in der Entwicklung befinden, sind besonders gefährdet. Eine schlechte Ernährung kann die Anfälligkeit noch verstärken². Das unsichere Wasser in dem Bergdorf im Jemen ist zudem eine finanzielle Belastung für die Familien. Nehaya meint: «Das Wasser aus den Brunnen wird knapp und wir müssen Wasser aus der Stadt kaufen. Aufgrund der schlechten Lebensbedingungen ist das sehr schwierig.» Schätzungsweise siebzig Prozent der Dorfbevölkerung sind arbeitslos, doch auch für die, die Arbeit haben, ist sauberes Wasser unerschwinglich. Sie müssten 133 % des durchschnittlichen Einkommens dafür aufbringen.

 

Fehlender Zugang zu sauberem Wasser macht die Familien anfälliger für Magen- Darmerkrankungen. Dies wiederum kann zusätzliche Kosten für die medizinische Versorgung von Kindern verursachen, und das in Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs des Landes. Die durch unsicheres Wasser verursachten Krankheiten machen die Kinder anfälliger für Unterernährung und dies wiederum für andere Infektionskrankheiten.

 

Ein alter Brunnen wurde gefunden, bei dem der Fluoridwert im sicheren Bereich von 0.5 bis 1.5 mg pro Liter liegt. Unsere Teams arbeiten derzeit daran, den Brunnen zu sanieren und die Bevölkerung mit sauberem Wasser zu versorgen. Isra hofft: «Wir setzen grosse Hoffnung auf Medair, die Situation im Dorf zu verbessern, das Wasserproblem zu lösen und unseren Kindern zu helfen.»

 

Edres, vier Jahre alt, hat fast sein ganzes Leben lang an Unterernährung gelitten und ist auf dem Weg der Besserung. Seine Mutter, die 30-jährige Isra, erzählt: «Nach dem Krieg hat sich alles verändert. Das Leiden nahm zu. Die Preise sind gestiegen. Wir hatten Schwierigkeiten, sauberes Wasser zu bekommen, und Krankheiten nahmen bei Kindern und Frauen aufgrund von Unterernährung und Armut zu. Sauberes Wasser ist die Grundlage des Lebens. Ohne können wir nichts tun.»

 


 

Dieses Medair-Projekt wird von der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit und grosszügigen privaten Spenden finanziert.

Die Inhalte dieses Artikels stammen von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten sowie am internationalen Hauptsitz. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

 

1. OCHA. (2021, March 16, p. 4). Humanitarian Response Plan Yemen. Relief Web. p. 5 https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Final_Yemen_HRP_2021.pdf.

 

2. World Health Organization. (2019). PREVENTING DISEASE THROUGH HEALTHY ENVIRONMENTS: INADEQUATE OR EXCESS FLUORIDE: A MAJOR PUBLIC HEALTH CONCERN. World Health Organization. p.4, 5 https://www.who.int/publications/i/item/WHO-CED-PHE-EPE-19.4.5.

 

3. World Health Organization. (2017). Guidelines for DRINKING-WATER Quality: fourth edition incorporating the first addendum. Geneva:             World Health Organization. Lizenz: CC BY-NC-SA 3.0 IGO. p. 372 https://www.who.int/publications/i/item/9789241549950.

      

 

4. GBD 2016 Disease and Injury Incidence and Prevalence Collaborators (2016). Global, regional, and national incidence, prevalence, and              years lived with disability for 328 diseases and injuries for 195 countries, 1990–2016: a systematic analysis for the Global        Burden of Disease Study 2016. Lancet 2017;390(10100):1211–1259     (https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(17)32154-2/fulltext).

 

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