Geschichten

In Sicherheit leben

Hilfe für die in einer Notunterkunft lebenden Binnenvertriebenen im Westen der Ukraine

«Ich war im vierten Monat schwanger. In dieser einen Nacht bin ich wegen den Explosionen aufgewacht. Die Raketen sind nicht weit von meinem Zuhause entfernt eingeschlagen. Ich hatte Angst, dort zu bleiben. Ich wollte mein ungeborenes Kind in Sicherheit bringen, also entschloss ich mich, zu fliehen», sagt Inna.

Wir sind zu Besuch in einer Grundschule in Bohorodchany, einer Stadt im Westen der Ukraine. Auf dem Schulgelände ist eine Unterkunft für Binnenvertriebene eingerichtet worden. Anstatt Schreibtischen stehen nun Etagenbetten in den Klassenzimmern. Als wir die Eingangshalle betreten, duftet es nach Essen, denn die Küche befindet sich mitten in der Schulaula. Plötzlich öffnet sich die Tür eines der Klassenzimmer und herausgelaufen kommt ein rotes Kätzchen. Die 29-jährige Inna, eine Binnenvertriebene aus der ostukrainischen Stadt Kramatorsk, geht zu ihm hin und hebt es hoch. Ich streichele die Katze und sie fängt an zu schnurren. Das erinnert mich an meine eigenen zwei Katzen, die zu Hause auf mich warten. Auf Innas Einladung hin betreten wir das Zimmer, und sie fängt an zu erzählen.

«So leben wir jetzt. Als Kind habe ich immer davon geträumt, in der Nähe einer Schule zu wohnen. Und jetzt ist mein Traum wahr geworden, ich lebe mitten in einer Schule», scherzt Inna.

Inna`s room in a shelter

Eine Tafel hängt an der Wand, ein Globus steht auf dem Schreibtisch und es gibt jede Menge Kinderspielzeug. Gemeindemitglieder und Freiwillige haben es mitgebracht, als sie herausfanden, dass Inna schwanger war. Fünf Monate nach ihrer Ankunft in Bohorodchany brachte sie in einer lokalen Geburtsklinik eine Tochter zur Welt. Die kleine Khrystyna ist mittlerweile sieben Monate alt. Sie lächelt bereits, zeigt Interesse an dem Kätzchen und posiert für die Kamera. Das Einzige, was Inna beklagt, ist, dass Khrystyna manchmal nicht gut schläft. «Die Grundschule ist kein sehr praktischer Ort, um mit einem kleinen Kind zu leben. Hier lernen Kinder, rennen herum, Schulglocken läuten, und oft wacht Khrystyna dadurch auf», fügt sie hinzu. Innas Mann ist in ihrer Heimatstadt geblieben, und ihr grösster Wunsch ist es, nach Hause zurückzukehren. An eine Rückkehr ist derzeit jedoch noch nicht zu denken, denn die Gefahr ist immer noch gross.

«Ich wünsche mir, dass mein Haus nicht beschädigt wird und dass meine Angehörigen am Leben bleiben. Viele von ihnen sind dortgeblieben. Zum Beispiel war meine Cousine gerade am Kaffeetrinken in der Nähe des Bahnhofs, als dort die Raketen einschlugen. Gott hatte Erbarmen mit ihr, sie wurde nicht einmal verletzt. Aber 50 Menschen sind an dem Tag dort gestorben, darunter auch Kinder», sagt Inna.

Es wird Zeit für Khrystynas Mittagsschlaf, und so verabschieden wir uns von Mutter und Tochter. Wir machen uns auf den Weg, um die anderen Bewohner der Unterkunft kennenzulernen. Zu Beginn der Krise waren hier 65 Menschen untergebracht, mittlerweile sind es 27, weil die Männer in andere Unterkünfte verlegt worden sind. Auf dem Flur begegnen wir unseren Medair-Fachkräften für psychosoziale Unterstützung, die gerade eine Beratungsgespräch durchführen. Sie klären die Teilnehmenden über gesunde Methoden zur Stress- und Gefühlsbewältigung auf. Auch Svitlana und ihre 14-jährige Tochter Violetta sind dabei.

Psychologists are conducting session in the hall of the lyceum

«Es ist sehr interessant und hilft, sich zumindest für eine Weile abzulenken. Aber wenn wir anfangen, uns an die Vergangenheit zu erinnern, weine ich und kann mich nicht beruhigen», sagt Svitlana.

Vor einem Jahr flohen die 42-jährige Svitlana und ihre Tochter aus Pokrowsk, einer Stadt in der Ostukraine. Ständiger Beschuss machte ein normales Leben unmöglich. Sie weiss nicht, was mit ihrem Zuhause geschehen ist, denn auch alle ihre Freunde haben Pokrowsk verlassen. Als Svitlana nach Bohorodchany kam, traf sie eine weitere Schreckensnachricht. «Ich stand vor einem weiteren Kampf, meinem sehr persönlichen. Eines Tages kam ich ins Krankenhaus, wo bei mir Krebs diagnostiziert wurde. Deshalb muss ich mein Leben jetzt nicht nur vor Raketen, sondern auch vor der Krankheit schützen», erklärt sie.

Svitlana and Violetta are in their room

Während wir reden gesellt sich eine weitere Bewohnerin der Unterkunft zu uns. Ich bin fasziniert davon, wie offen und gesprächsbereit diese Menschen sind. Und in diesem Moment will ich so lange mit ihnen reden, wie sie möchten. Die Frau stellt sich als Valentyna vor. Auch sie kommt aus dem Osten des Landes. Ihre Heimatstadt ist besetzt, ihr Haus zerstört. «Ich weiss nicht, wie ich weiterleben soll. Ich lebe immer nur von einem Tag auf den nächsten. Ich weine fast jeden Tag. Egal was passiert, ich habe kein Vertrauen in das Morgen. Es ist nicht sicher, wie lange das alles andauern wird. Ich möchte leben und träume davon, nach Hause zurückzukehren, aber solange kein Frieden herrscht, ist das unmöglich», sagt die 63-jährige.

Valentyna is standing near the board in a classroom which is used as sheleter for IDPs

«Als ich erfahren habe, dass Medair psychosoziale Sitzungen anbietet, habe ich mich sehr gefreut. Ich habe mich an Euch erinnert, weil Ihr uns Decken und Ausrüstung für die Küche gegeben habt. Ich war so glücklich, als wir diese Decken bekamen. Sie waren brandneu. Die Decke ist nur für mich und wird nicht geteilt. Ich erinnere mich jetzt an diesen Moment und weiss, dass ich mich wie ein kleines Kind darüber gefreut habe», sagt Valentyna.

Medair hat die Notunterkunft für 65 Menschen in Bohorodchany durch die Bereitstellung von Gütern unterstützt. Die Küche, Bäder und Zimmer wurden mit Wasch- und Küchenutensilien, Decken, Handtüchern und Kissen ausgestattet. Ein mobiles Team von psychologischen Fachkräften führt derzeit Sitzungen für Hilfskräfte und Bewohnende der Unterkunft durch. Wir tun alles in unserer Möglichkeit, um den Menschen zu zeigen, dass wir zusammenhalten.

 

Red cat Lev is sitting near the children walker

 


Die Arbeit von Medair in der Westukraine wird von der Glückskette, World Vision, PMU, Tearfund New Zealand, Cedar und anderen grosszügigen Organisationen und Privatpersonen unterstützt.

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

CONSULTEZ NOS DERNIÈRES HISTOIRES