Geschichten

Sein Leben wiederaufbauen

Vertriebene des Ukraine-Konflikts werden durch Reparaturen ihrer Unterkünfte unterstützt

«Nach Kriegsbeginn bin ich noch über einen Monat in meiner Heimatstadt im Osten der Ukraine geblieben. Ich wollte sie nicht verlassen. Aber es war emotional sehr schwierig, dort zu bleiben. Ich habe jede Nacht in meinen Alltagskleidern geschlafen, damit ich bei einer Explosion schnell weglaufen konnte», sagt Olena, eine 43-jährige Binnenvertriebene aus der Ukraine.

Wir treffen Olena im Studentenwohnheim einer Universität im Westen der Ukraine. Hier war sie hingelangt, nachdem sie ihre Heimatstadt unter Lebensbedrohung verlassen musste. Als ich Olena frage, ob sie bereit wäre, ihre Geschichte mit uns zu teilen, willigt sie sofort ein. Zusammen nehmen wir in der Eingangshalle des Gebäudes Platz – ein fünfstöckiges Haus, das seit Kriegsbeginn in eine Sammelunterkunft umfunktioniert worden ist. Die grossen Fenster gewähren uns Blick auf einen Park, und von draussen dringt der Geruch der Kiefern.

«Was kann ich dir erzählen?» fragt mich Olena. Doch ehe ich antworten kann, beginnt sie schon, mir Situationen zu schildern, die sie im letzten Jahr erlebt hat. «Zuerst hatte ich Angst, aber ich glaubte, dass alles schnell wieder vorbei sein würde. Deshalb habe ich mich entschieden, in meiner Stadt zu bleiben. Irgendwann habe ich mir eingeredet, dass ich die ständige Gefahr schon gewohnt war, obwohl man sich in Wirklichkeit nicht daran gewöhnen kann», fängt Olena an zu erzählen. Vor den Läden bildeten sich von nun an auch immer längere Warteschlangen. Auch Olena war gezwungen, sich in diese einzureihen, um zumindest einige wichtige Produkte zu kaufen. «Das letzte Mal habe ich drei Stunden gewartet. Sobald man an der Reihe war, hat man einfach alles gekauft, was man brauchte und gar nicht an die Kosten gedacht», beschreibt Olena die Situation. An diesem Tag würde sich ihr Leben von Grund auf ändern.

«Der schrecklichste Moment war, als ich auf dem Rückweg vom Laden ein lautes Geräusch hörte. Ich kann es nicht beschreiben oder die richtigen Worte dafür finden, aber es war sehr laut, unangenehm und beängstigend. Es war, als würde etwas direkt auf mich zueilen», sagt Olena.

«Ich stand unter Schock und konnte mich nicht entscheiden, ob ich wegrennen oder stillstehen sollte. Ich entschied mich, es zu wagen und über die Strasse in Richtung meinem Zuhause zu rennen. Sobald ich das getan hatte, kam eine Reihe von Panzern angefahren und zerstörte alles, was im Weg lag. Wenn ich geblieben wäre, wo ich gestanden hatte, würde ich mich jetzt wahrscheinlich nicht hier mit dir unterhalten,» ist sich Olena sicher. Zuhause angekommen rief sie ihre Tochter an, um ihr alles zu erzählen. Ihre Tochter meinte sofort, sie könnten dort nicht mehr bleiben; sie sollten fliehen. «Ich habe mir gar keine grossen Gedanken darüber gemacht. Das wichtigste für mich war, meine Kinder nahe bei mir zu haben. Mit meiner Tochter und ihrem Mann bin ich deshalb in den Westen gekommen.»

«Mir gefällt die Stadt, in die wir geflüchtet sind. Sie ist klein und kompakt. Hier gibt es sehr freundliche Menschen, die immer bereit sind zu helfen. Ich habe das von Anfang an gespürt», sagt Olena.

Olena hat damit begonnen, ihr Leben im Westen wiederaufzubauen. Da sie online arbeitet, verbringt sie viel Zeit zu Hause. Das hat es ihr ermöglicht, sich einen grossen Traum zu erfüllen: einen Hund zu haben. Baro ist nun ihr täglicher Begleiter, mehrere Male am Tag gehen sie zusammen im Park spazieren. «Mein Hund lenkt mich von den Geschehnissen ab, die um mich herum passieren. Mit ihm kann ich Spass haben, und von einem Leben in Frieden träumen», sagt Olena. «Ich denke jetzt nicht mehr so oft an meine Heimatstadt, sondern an die Stadt, die für mich ein Zufluchtsort war, weil ich hier so gut aufgenommen worden bin. Die Zustände sind hier ausgezeichnet, sodass ich mein Leben wiederaufbauen konnte», schildert Olena.

Vor einem Jahr hat das Studentenwohnheim, in dem Olena wohnt, eingewilligt, Binnenvertriebene aus dem Osten der Ukraine aufzunehmen, um deren Leben sowie die Leben ihrer Lieben zu retten. Aufgrund der alten Fenster war es jedoch innerhalb des Gebäudes kalt. Als Medair in die Stadt kam, waren bereits um die 60 aus dem Osten geflüchtete Familien in dem Haus untergekommen. Das Team von Medair hat 90 Fenster ausgetauscht, sodass sowohl Zimmer, Küchen als auch Badezimmer gut gegen die Kälte geschützt waren und die Menschen nicht mehr frieren mussten. Zudem stattete Medair die Unterkunft mit Haushaltsgegenständen aus, um das Leben der hier lebenden Menschen so komfortabel wie möglich zu gestalten.

Das Gespräch mit Olena hat mich sehr berührt. Es ist nie leicht, nach einem solchen emotionalen Austausch die adäquaten Worte zu finden. Bei der Verabschiedung danke ich Olena für ihre Offenheit. Bevor ich den Heimweg antrete, treffe ich mich noch mit meinem Medair-Kollegen Oleksandr, der als Verantwortlicher für Infrastruktur in unserem Ukraine-Programm tätig ist. Wie kann man Menschen, die Vertreibung und Not erlebt haben, am besten begegnen? frage ich ihn.

«Wenn wir neuen Leuten begegnen ist die erste Emotion, die wir zeigen, Empathie. Weil die Menschen sofort anfangen zu erzählen, was sie erlebt haben, was sie beschäftigt», erklärt Oleksandr.

Er ist dankbar, dass das Team von Medair nicht nur zuhören, sondern auch Unterstützung bieten kann. «Dass wir ihnen etwas helfen können gibt uns ein positives Gefühl. Dann sehen wir die Reaktionen der Menschen, sie sind dankbar, und wir freuen uns, sie lächeln zu sehen,» erzählt er.

 


Die Massnahmen von Medair im Westen der Ukraine werden finanziert von der Glückskette, World Vision, PMU, Tearfund New Zealand, Tearfund UK, Cedar Fund, All We Can, MSM sowie von anderen grosszügigen Organisationen und Privatspendenden.

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

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