Geschichten

Der dringende Bedarf an psychosozialer Unterstützung im Libanon

Im libanesischen Bekaa-Tal bietet Medair Sitzungen zur psychischen Gesundheit für Menschen mit besonderen Bedürfnissen und ihre Betreuungspersonen an.

«Als ich zum ersten Mal kam, hielt ich nicht viel von den Sitzungen. Aber allein dadurch, dass ich mit anderen Leuten an der Sitzung teilnahm, fühlte ich mich schon akzeptiert und zugehörig», sagt Hassan.

Die derzeitige Situation im Libanon hat schwerwiegende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit vieler Menschen, nicht nur auf Erwachsene, aber auch Jugendliche und insbesondere Menschen mit besonderen Bedürfnissen sowie deren Betreuungspersonen. Die zivilen Unruhen, die Wirtschaftskrise und die COVID-19-Pandemie haben dazu geführt, dass die im Libanon lebenden Menschen mit immer schwierigeren Umständen konfrontiert sind. Viele befinden sich in finanziellen Schwierigkeiten, an grundlegende Dinge wie Lebensmittel, Wasser und medizinische Versorgung zu kommen ist oft eine Herausforderung. All dies hat sich negativ auf ihre psychische Gesundheit ausgewirkt: sie leiden aufgrund der sich verschlimmernden Krise unter grossem Stress, Traumata und Depressionen.

Menschen mit besonderen Bedürfnissen und ihre Betreuungspersonen sind von den sich verschlechternden Bedingungen im Libanon besonders betroffen. Viele der Betreuenden kämpfen darum, ihre eigenen Grundbedürfnisse zu befriedigen und gleichzeitig für ihre Angehörigen zu sorgen. Dies kann überwältigend sein und zu Gefühlen der Erschöpfung, Schuld und Hilflosigkeit führen. Darüber hinaus kann es sein, dass die Pflegenden keinen Zugang zu wichtigen Dienstleistungen und Ressourcen haben, wie etwa zur Gesundheitsversorgung, die sie für die Pflege ihrer Angehörigen benötigen. Auch die Menschen mit besonderen Bedürfnissen, die sie betreuen, bekommen die Auswirkungen der Situation zu spüren. Viele haben keinen Zugang zu der von ihnen benötigten medizinischen Versorgung oder spezialisierten Diensten, was zu erhöhter Angst und Stress führt. Darüber hinaus erschwert der Mangel an Ressourcen und Dienstleistungen die Aufrechterhaltung ihrer täglichen Routinen und Aktivitäten, was ihre psychischen Probleme weiter verschlimmern kann.

Mitte April dieses Jahres hatte ich das Privileg, einer Selbsthilfegruppe für psychische Gesundheit beizuwohnen, die vom Medair-Team für psychische Gesundheit veranstaltet wurde. Die Gruppe bestand aus zehn Personen verschiedener Nationalitäten, darunter Personen aus Syrien und dem Libanon, im Alter zwischen 25 und 40 Jahren. Die Veranstaltung wurde in Zusammenarbeit mit der Development Indicators Association (DIA) durchgeführt. DIA ist eine Organisation in Chtoura im libanesischen Bekaa-Tal, die sich für die Integration von Menschen mit besonderen Bedürfnissen einsetzt. Geleitet wird sie von Dr. Fayez. Er ist Libanese und lebt selbst mit einer Behinderung. Dr. Fayez und ich sprachen über die Bedeutung der Inklusion und über das Ziel von DIA, das darin besteht, eine Gesellschaft zu schaffen, in der jeder Mensch unabhängig von seinen individuellen Fähigkeiten willkommen ist und respektiert wird. Die Organisation ist bestrebt, ein integratives Umfeld zu schaffen, das die Vielfalt zelebriert und die Akzeptanz aller fördert.

A person with specific needs sits at a desk in an office.

Dr. Fayez, 42, Leiter der Organisation DIA (Development Indicators Association), die sich im Libanon für die Integration von Menschen mit besonderen Bedürfnissen einsetzt. ©Medair/Abdul Dennaoui

Dr. Fayez erzählt: «Der Libanon ist immer noch ein wenig altmodisch, wenn es um Akzeptanz und Integration geht. Wir reden immer noch über Inklusion, als ob sie etwas Unerreichbares wäre. Inklusion ist das Recht aller Menschen. In den Augen Gottes wurden wir alle gleich geschaffen. Niemand sollte wegen einer Behinderung oder aus anderen Gründen ausgeschlossen oder anders behandelt werden. Jeder verdient die gleichen Chancen und Rechte, unabhängig von seinen Fähigkeiten oder seiner Behinderung. Um eine Welt zu schaffen, die alle Menschen einbezieht und respektiert, ist es wichtig, die Vielfalt zu verstehen und zu akzeptieren. Unsere Aufgabe bei DIA besteht darin, dies zu erreichen, indem wir die notwendigen Schritte unternehmen und den Rahmen für die Zukunft schaffen. Es ist eine Tatsache, dass die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen ein grundlegendes Menschenrecht ist.»

Nach meinem Gespräch mit Dr. Fayez ging es auch schon weiter zum Treffen der Selbsthilfegruppe. Ich betrat den Raum und spürte die Anspannung der Teilnehmenden, denn die Sitzung zur psychischen Gesundheit sollte gleich beginnen. Die Teilnehmenden, die alle spezielle Bedürfnisse hatten, waren gespannt darauf, mehr über den gesunden Umgang mit negativen Gedanken zu erfahren. Geleitet wurde die Sitzung von den Medair-Mitarbeitenden Fatima und Rayan. Auf klare aber einfühlsame Weise sprachen sie mit der Gruppe darüber, wie wichtig Selbstfürsorge ist und welche Kraft hinter positivem Denken steckt. Im Verlauf der Sitzung konnte ich beobachten, wie sich die Teilnehmenden aktiv an der Sitzung beteiligten, ihre eigenen Erfahrungen mitteilten und Einblicke in ihre eigenen Bewältigungsmechanismen gaben.

Besonders beeindruckt war ich von den positiven Rückmeldungen der Teilnehmenden. Viele erzählten, wie bedeutungsvoll es ist, in die Gespräche miteinbezogen zu werden, und welch positive Auswirkungen die Sitzungen bereits gebracht haben. Dank der erlernten Strategien sei der Alltag um einiges leichter zu bewältigen. Auch merkte ich, dass die Menschen grossen Nutzen aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit ähnlichen Interessen zogen.

A person with specific needs sits next to other participants during a mental health session.

Hassan, 36 Jahre alt, nimmt regelmässig an den von Medair geleiteten Sensibilisierungssitzungen zur psychischen Gesundheit für Menschen mit besonderen Bedürfnissen im Bekaa-Tal teil. ©Medair/Abdul Dennaoui

«Als ich zum ersten Mal kam, hielt ich nicht viel von den Sitzungen. Aber allein dadurch, dass ich gemeinsam mit anderen Leuten teilnahm, fühlte ich mich bereits akzeptiert und zugehörig. Das wurde mit der Zeit immer besser. Ich habe gemerkt, dass ich in diesen Sitzungen gefunden habe, wonach ich die ganze Zeit gesucht hatte, als ich in meinem persönlichen Leben mit Problemen kämpfte. Ich habe erkannt, dass es etwas anderes ist, mit Hilfsmitteln zu kämpfen, als ohne sie zu kämpfen», erzählt der 36-jährige Hassan, Mitglied der syrischen Gemeinschaft und Person mit besonderen Bedürfnissen. Zusammen mit seiner Mutter Leila nahm er an der Selbsthilfegruppe teil.

Hassan erzählte weiter, dass er sich im Laufe der wöchentlichen Sitzungen immer mehr für das, was gelehrt wurde, interessierte. Das ermutigte ihn, die erlernten Techniken in seinem Alltag anzuwenden. Leila, seine Mutter, bestätigt die Veränderungen in Hassans Charakter und seine verbesserte Fähigkeit, Schwierigkeiten zu bewältigen: «Nach der dritten Sitzung bemerkte ich eine Veränderung bei meinem Sohn und ein neues Gefühl der Gelassenheit. Es war, als hätte er sich über Nacht verändert. Ich bin sehr stolz darauf, mitzuerleben, wie er sich bemüht, sich zu verbessern, und zum ersten Mal beginnt er, sich als Teil seiner Gemeinschaft zu fühlen.» Sie erwähnte auch, dass die Teilnahme an den Sitzungen mit ihrem Sohn dazu beigetragen hat, eine stärkere Beziehung zwischen ihnen als Mutter und Sohn aufzubauen.

A person with specific needs sits next to other participants during a mental health session.

Die 40-jährige Libanesin Wourroud erzählt, wie nützlich die Sitzungen für sie sind, weil sie ihr das nötige Werkzeug geben, um mit Stressfaktoren besser umgehen zu können. ©Medair/Abdul Dennaoui

Wourroud, 40 Jahre alt, Mitglied der libanesischen Gemeinschaft und Person mit besonderen Bedürfnissen, sprach ebenfalls über die Auswirkungen der Sitzungen auf ihr tägliches Leben: «Ich bin dankbar, dass ich die Möglichkeit hatte, an den Sitzungen teilzunehmen, und ich muss sagen, dass sie für mich unglaublich nützlich waren. Als jemand, der besondere Bedürfnisse hat, wollte ich sicherstellen, dass ich das meiste aus den Sitzungen heraushole und verstehe, wie ich mit schwierigen Situationen richtig umgehen kann. Das Leben wird von Tag zu Tag schwieriger. Es gibt viele Stressfaktoren, die unser Gehirn verarbeiten muss. Wenn man nicht mit den richtigen Werkzeugen ausgestattet ist, kann man leicht in Stress geraten und in Depressionen verfallen. Die Sitzungen haben mir das Wissen und die Fähigkeiten vermittelt, um dies zu vermeiden, und ich werde gerne weiter daran teilnehmen.»

A person with specific needs sits next to other participants during a mental health session.

Najah (mittig im Bild), 21 Jahre alt, Palästinenserin, sitzt neben Ola, einer 29-jährigen Libanesin. Beide sind sie Personen mit besonderen Bedürfnissen und nehmen an der Sitzung zur psychischen Gesundheit teil. ©Medair/Abdul Dennaoui

Für andere Teilnehmende wie Najah, eine 21-jährige Palästinenserin mit besonderen Bedürfnissen, waren die Sitzungen eine Gelegenheit, aus ihrem Schneckenhaus auszubrechen und neue Freunde zu finden. «Diese Sitzungen hatten einen sehr positiven Einfluss auf mich. Das Zusammensein mit anderen Menschen, die die gleichen Probleme haben, hat mein Leben verändert. Früher war ich ziemlich isoliert und hatte kein Interesse daran, Freundschaften zu schliessen oder mich mit anderen auszutauschen. Mein Zuhause war kein besucherfreundlicher Ort. Wenn ich mich jetzt anschaue, bin ich erstaunt, wie sehr ich mich in so kurzer Zeit verändert habe. Die Sitzungen waren auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten, und die Übungen waren für unsere Herausforderungen sehr relevant.»

Am Ende der Sitzung bedankten sich die Teilnehmenden für die wertvollen Informationen, die sie erhalten hatten. Sie berichteten, dass sich ihre psychische Gesundheit und ihr Wohlbefinden seit der Teilnahme an den Sitzungen verbessert hätten, da sie sich einbezogen und zugehörig fühlten, und sie freuten sich auf die nächste Sitzung.

 


Die psychosoziale Unterstützung von Medair im Libanon wird von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) gefördert.

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

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