Geschichten

Rohingya-Krise: COVID-19 im Flüchtlingslager begegnen

Die Rohingya, die 2017 vor der grausamen Gewalt in Myanmar flohen, leben gegenwärtig im grössten Flüchtlingslager der Welt. Nachdem Carl in seine Heimat Neuseeland zurückgekehrt ist, lässt er uns noch einmal an seinen Erfahrungen während COVID-19 in Bangladesch teilhaben und erklärt, welche Auswirkungen die Pandemie auf die Familien in Kutupalong haben.

Kontinuierliche Veränderungen bestimmten in den vergangenen fünf Monaten jeden Aspekt unseres Alltags. Bangladesch führte am 26. März einen landesweiten Lockdown ein, um die Verbreitung von COVID-19 zu verlangsamen. Im Laufe der folgenden zehn Tage mussten die Rohingya in den Flüchtlingslagern mit einer drastisch eingeschränkten Versorgung zurechtkommen – zunächst waren «wesentliche› Leistungen» von den Einschränkungen betroffen, später dann noch «kritische› Leistungen».

Der Zugang für humanitäre Helfer in die Camps und Versammlungen von Rohingya innerhalb der Lager wurden begrenzt. Wir alle befürchteten, dass sich das Virus rasant ausbreiten würde, wenn es erst einmal die Lager erreicht hätte – denn an einem solchen Ort ist eine physische Distanzierung unmöglich und die Einhaltung von Hygienemassnahmen sehr schwierig.

Als ich anfangs April an Sitzungen teilnahm, wurde mir das Ausmass dessen, was auf uns zukam, erst richtig bewusst. Statistische Modelle der renommierten Johns Hopkins University und der London School of Hygiene and Tropical Medicine bestätigten unsere schlimmsten Befürchtungen – im Falle einer hohen Übertragungsrate des Virus verfügten die humanitären Organisationen über weniger als 5 % der Krankenhausbetten, die für COVID-19 Patienten benötigt würden und über keine Intensivpflegeeinrichtungen.

Hinzu kam, dass die erhöhte Belastung des Gesundheitssystems durch COVID-19 Fälle die reale Gefahr mit sich brachte, dass reguläre Erkrankungen unbehandelt bleiben würden. Ist dies der Fall, kann das zu anhaltenden Gesundheitsschäden und Todesfällen führen, welche ansonsten vermeidbar gewesen wären. Mit dem Ausbruch der COVID-19 Pandemie sahen sich die Rohingya nun auf einmal mit einer Krise innerhalb einer schon bestehenden Krise konfrontiert.

Social Distancing und Isolation stellen bei den beengten Verhältnissen im Flüchtlingslager Kutupalong eine grosse Herausforderung dar. ©Medair

Besonders hart traf die Flüchtlinge die Einschränkung der humanitären Leistungen. Viele Grundleistungen, auf die die Menschen angewiesen waren, standen von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Verfügung – beispielsweise sichere Orte zum Spielen und Lernen für Kinder, Schutz und Unterstützung für Opfer von Gewalt in der Familie, Hilfe im Bereich Unterkünfte und Infrastruktur, die das Lager zu einem sichereren Ort machten oder Ernährungshilfe für Mütter und Kinder unter 5 Jahren. Die Familien versuchten, so gut wie möglich, mit dem Leben in ihrer «Einzimmerhütte» aus Bambus und Planen zurechtzukommen.

Die Hilfsorganisationen verlagerten ihre Ressourcen verstärkt auf den Kampf gegen COVID-19. Sie richteten Quarantäne- und Behandlungszentren für Patienten mit Verdacht auf oder bestätigter Infektion ein und erhöhten innerhalb von nur wenigen Monaten die Bettenkapazität des Krankenhauses um fast das Zehnfache. Ausserdem mussten wir uns darüber Gedanken machen, wie wir weiterhin unsere lebensrettenden Leistungen erbringen, die Würde der Menschen bewahren und dabei gleichzeitig uns selbst und unsere Patienten vor COVID-19 schützen konnten.

Ungeachtet der Auflagen waren unsere Mitarbeitenden und Freiwilligen entschlossen, unterernährte Kinder, insbesondere Kinder unter fünf Jahren, weiterhin zu unterstützen. Dies war entscheidend, um die Gesundheit dieser Kinder zu verbessern und einen Krankenhausaufenthalt zu vermeiden. Unterernährung, die nicht behandelt wird, kann eine ganze Reihe verschiedener Gesundheitsprobleme verursachen und auch zum Tod führen.


Eine Mutter lernt im Flüchtlingslager Kutupalong, wie sie den Ernährungszustand ihres Sohnes messen kann. © Medair

Wir setzten uns auch für die Aufrechterhaltung einer regulären, nicht COVID-19 betreffenden Gesundheitsversorgung ein. Wichtig in dieser Situation war, dass der Zugang zu medizinischer Versorgung weiterhin gewährleistet blieb, einschliesslich der Aufrechterhaltung von Impfungen, vor- und nachgeburtlicher Betreuung, Familienplanung, allgemeinen Arztbesuchen und pharmazeutischen Diensten, insbesondere für Menschen mit chronischen Krankheiten. Unsere beiden Gesundheitseinrichtungen blieben offen. Wir führten strenge Sicherheitsprotokolle ein, um Verdachtsfälle von COVID-19 zu identifizieren und Personen für zusätzliche Behandlungen zu überweisen.

COVID-19 traf uns während der Monsunsaison – einer Zeit, in der heftige Regenfälle das ganze Gelände in Schlamm verwandeln und die dürftigen Unterkünfte aus Bambus und Planen häufig beschädigt oder zerstört werden. Nach jedem Unwetter erfassten unsere Mitarbeitenden die Schäden und halfen rund 700 Haushalten bei der Reparatur oder dem Wiederaufbau ihrer Unterkünfte.

Unsere Mitarbeitenden und Freiwilligen stehen während dieser Pandemie buchstäblich an vorderster Front. Tagtäglich übernehmen sie eine wichtige Rolle, indem sie in die Gemeinschaften hinausgehen und dabei sorgfältig auf ihren eigenen Schutz achten. Sie geben wichtige Informationen weiter und leisten Unterstützung, was letztlich Leben rettet und dazu beiträgt, die Würde der Menschen in einer globalen Gesundheitsbedrohung zu wahren.

Als ihr Vorgesetzter könnte ich nicht stolzer auf das sein, was mein Team in dieser äusserst herausfordernden Zeit geleistet hat. Es ist eine Sache, sich humanitär einzusetzen und andere zu unterstützen, wenn sie in Not sind. Sich selbst in Gefahr zu bringen und sich gleichzeitig um das Wohlergehen der eigenen Familie zu Hause zu sorgen, ist aber nochmals etwas ganz anderes.

Einer unserer Mitarbeiter, der sich an vorderster Front engagiert, sagte zu mir: «Früher glaubte ich, sich humanitär zu engagieren sei einfach ein Job. Inzwischen habe ich aber das Gefühl, es ist das, was mich letztlich ausmacht. Niemals würde ich mich in dieser verrückten Situation befinden, wenn es für mich einfach nur ein Job wäre. Es sieht so aus, als verfügte ich über die Fähigkeiten, die in dieser Zeit nützlich sind und ich bin überzeugt, das Richtige zu tun – also tue ich es.»

Ein freiwilliger Helfer von Medair beteiligt sich an der Verteilung von lebensnotwendigen Haushaltsgegenständen im Flüchtlingslager Kutupalong. © Medair

Die anhaltende Einschränkung der humanitären Leistungen in den Rohingya-Flüchtlingslagern wirkt sich spürbar aus. Das Leben ist besonders hart, die Menschen sind müde, und COVID-19 ist nach wie vor eine ernstzunehmende Bedrohung. Mühsam erarbeitete Fortschritte in wichtigen Bereichen drohen wieder verloren zu gehen, wie zum Beispiel die Verbesserung der Lebensbedingungen, die Erhöhung der Impfquote oder die Verringerung der Unterernährungsraten.

Zweifellos hat die ganze Welt mit den Auswirkungen von COVID-19 zu kämpfen, aber die meisten von uns befinden sich nicht annähernd in solch prekären Verhältnissen wie die Rohingya. Gerade jetzt dürfen wir sie deshalb nicht vergessen: Kurzfristig in ihrem Kampf gegen COVID-19 aber auch in ihren unermüdlichen Bemühungen für eine sichere, würdige und freiwillige Rückkehr in ihre Heimat Myanmar.

 

Carl Adams ist ehemaliger Landesverantwortlicher für Medair in Bangladesch. Klicken Sie hier, um mehr über die Rohingya-Krise zu erfahren.
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Medair ist eine internationale humanitäre NGO, die Nothilfe und Wiederaufbaumassnahmen für Familien leistet, die durch Naturkatastrophen, Konflikte und andere Krisen in Not geraten sind. In Bangladesch arbeitet Medair in Partnerschaft mit World Concern.

Die Inhalte dieses Artikels stammen von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten sowie am internationalen Hauptsitz. Die Meinungen entsprechen ausschliesslich den Ansichten von Medair und damit nicht unbedingt auch dem offiziellen Standpunkt anderer Hilfsorganisationen.

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