Geschichten

Jemen: Eine Krise inmitten der Krise

In den vergangenen Jahren wurde in den Medien über zahlreiche komplexe Krisen berichtet: Ebola in West- und Zentralafrika, die Krise in Syrien, vor der die Betroffenen massenweise nach Jordanien, in den Libanon und ins europäische Ausland flüchteten, und aktuell Covid-19. Im Jemen spielt sich derzeit die schlimmste humanitäre Krise überhaupt ab – auch wenn der sich kontinuierlich zuspitzende Bürgerkrieg es nur selten in die Medienschlagzeilen schafft.

Der anhaltende Konflikt im Jemen hat zu einem schweren wirtschaftlichen Zusammenbruch geführt. Laut Angaben der UNO sind rund 24 Millionen Jemeniten derzeit auf humanitäre oder psychosoziale Unterstützung angewiesen. Das entspricht 80 Prozent der Bevölkerung. Es ist nicht einfach, sich eine solche Zahl im europäischen Vergleich vorzustellen.

Mehr als die Hälfte der Spitäler sind ausser Betrieb. Dadurch fehlt 14 Millionen Jemeniten der Zugang zu medizinischen Grundleistungen, die bei uns so selbstverständlich sind. Unsere Teams sind in entlegenen Dörfern im Einsatz und berichten immer wieder von Gesundheitseinrichtungen, die ohne die von uns bereitgestellte Ausrüstung und die Medikamente nicht in der Lage wären, Kranke und Verletzte zu behandeln. Fast genauso viele Menschen haben derzeit keinen Zugang zu sauberem Wasser oder angemessenen sanitären Einrichtungen wie Toiletten. 2017 hatte dieser Mangel einen Choleraausbruch zur Folge – mit über einer Million Verdachtsfällen.

© Karl Schembri/NRC

Das Leid im Jemen ist enorm. Viele Schwangere, Stillende und Kleinkinder leiden an Unterernährung, während sie gleichzeitig von Infektionskrankheiten wie Cholera und aktuell auch Covid-19 bedroht sind. Als ich vor fast zwei Jahren die Landesverantwortung für den Jemen übernahm, sah ich die Statistiken zum ersten Mal. Doch hinter jeder Zahl steht ein Mensch, mit seiner ganz individuellen Lebensgeschichte. Einer dieser Menschen ist Mahmoud*. Er verlor seine fünfjährige, schwer unterernährte Tochter, nachdem ihm eine lebensrettende Spezialbehandlung verweigert wurde, weil er sie sich nicht leisten konnte, obwohl sie kostenlos hätte verfügbar sein sollen. Mahmouds Geschichte hat mir klargemacht, dass es für notleidende Jemenitinnen und Jemeniten, wenn sie keine dringende Hilfe erhalten, schnell um Leben und Tod gehen kann. Gemeinsam wollen und müssen wir als humanitäre Gemeinschaft für diese Familien etwas bewirken. Deshalb hat Medair im Jemen ein Nothilfeprogramm ins Leben gerufen.

 

Unsere Teams im Jemen haben bereits damit begonnen, Notleidende mit lebensnotwendiger Ernährung und medizinischen Leistungen, Wasser und sanitären Einrichtungen zu versorgen. Die Medair-Mitarbeitenden nehmen weite Reisen auf sich, um betroffene Dörfer zu erreichen. Oft liegen diese in abgelegenen Regionen, in denen kaum andere Organisationen arbeiten. Im Rahmen unserer Projekte werden in den Gesundheitskliniken Medikamente aufgestockt, Ausrüstung bereitgestellt und Fachkräfte geschult. Freiwillige Helferinnen und Helfer identifizieren und überweisen unterernährte schwangere Mütter und Kleinkinder in Spitäler, damit sie angemessen behandelt werden können. Zudem schaffen wir in den von uns unterstützten Gesundheitseinrichtungen Zugang zu sauberem Trinkwasser, errichten Handwaschanlagen und andere sanitäre Einrichtungen, um Ansteckungsrisiken zu verringern. Gleichzeitig werden Sofortmassnahmen zur Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung in Gemeinden umgesetzt, welche durch wasserübertragbare Krankheiten wie Cholera gefährdet sind.

Unsere jemenitischen Teamkollegen setzen sich hingebungsvoll für ihre Mitmenschen ein. Ihre Leidenschaft motiviert mich – vor allem an Tagen, an denen ich herzzerreissende Geschichten wie diejenige von Mahmoud höre. Es ist diese Leidenschaft, die uns antreibt, mit den vielen Herausforderungen unserer Arbeit fertigzuwerden – und das in einer komplexen Umgebung, in der sich die Sicherheitslage und damit unsere Einsatzmöglichkeiten jederzeit ändern können.

Während wir unsere Projekte im Jemen lancieren, beginnt sich Covid-19 auch hier bemerkbar zu machen. Bisher wurden zwar erst wenige bestätigte Covid-19-Fälle gemeldet. Doch auf eine Pandemie dieses Ausmasses und eine Zunahme der Infektionszahlen ist das fragile Gesundheitssystem nicht ausgelegt. Die jemenitische Bevölkerung hat bereits so viel durchgemacht und sieht sich jetzt inmitten der Krise mit einer weiteren Krise konfrontiert.

Ich bin dankbar, dass Medair sich im Jemen engagiert. Die Bedürfnisse vor Ort sind beispiellos und die Erfahrung unserer täglichen Arbeit vor Ort zeigt uns, dass die Bevölkerung auch in den kommenden Jahren kontinuierliche Unterstützung der humanitären Gemeinschaft benötigen wird, um ihre Grundbedürfnisse ansatzweise decken zu können.»

 


 

Die Inhalte dieses Artikels stammen von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten sowie am internationalen Hauptsitz. Die Meinungen entsprechen ausschliesslich den Ansichten von Medair und damit nicht unbedingt auch dem offiziellen Standpunkt anderer Hilfsorganisationen.

Foto: © Ingrid Prestetun/NRC

 

 

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