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Trotz aller Widrigkeiten

September 9, 2024
von Medair
Libanon
Die Krise im Nahen Osten verschärft sich und hat auch starke Auswirkungen auf den Libanon. Besonders den in Zeltsiedlungen lebenden Geflüchteten fehlt es an allem.

"Wir sind gezwungen, unsere Vorräte und das wenige Einkommen, das wir haben, zu rationieren. Wir müssen jeden Tag sehen, wie wir überleben. Trotz aller Widrigkeiten müssen wir überleben", sagt Houra.

Im libanesischen Bekaa-Tal lebt eine grosse Zahl syrischer Geflüchteter. Nach Schätzungen der Regierung sind es etwa 1,5 Millionen. Der Konflikt in ihrer Heimat währt noch immer und bewegt sich inzwischen auf das dreizehnte Jahr zu. An eine Rückkehr kann deshalb nicht gedacht werden. Im Libanon jedoch ist das Leben hart. Familien kämpfen ums Überleben und ihnen fehlt es an allem. Sie sind nicht in der Lage, Lebensmittel, Miete, Strom und Medikamente zu bezahlen. Die Krise verschärft sich weiter und die Menschen schauen in eine ungewisse Zukunft.

Houra ist eine starke und mutige Mutter. Ich lerne die 52-Jährige kennen, als ich meine Medair-Teamkollegen bei einem Besuch in ihrer informellen Siedlung begleite. Ziel des Besuches war herauszufinden, welche (zusätzliche) Hilfe für Geflüchtete aus Syrien benötigt wird.

Die syrische Geflüchtete Houra (52) mit ihren zwei jüngsten Töchtern während einem Hausbesuch von Medair-Mitarbeitenden in ihrer Zeltunterkunft in Ghazze im Bekaa-Tal (Bild vom 3. Juli 2024) ©Medair/Abdul Dennaoui

Mehr als 70 Prozent der syrischen Geflüchteten leben in Armut, haben nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, Bildung oder Arbeitsmöglichkeiten und nur geringe Aussichten auf eine Rückkehr in ihre Heimat.  Als ich Houra zum ersten Mal traf, beeindruckte mich vor allem ihre Entschlossenheit und ihr Instinkt, ihre Kinder zu schützen. Während der Umfrage mit dem Team sprach Houra mit uns über ihre derzeitige Realität. Ihr Herz schmerzt für ihre Heimat, aber sie weiss, dass die Flucht aus Syrien die richtige Entscheidung war, um die Sicherheit ihrer Kinder zu gewährleisten. Sie musste jedoch schnell feststellen, dass das Leben im Libanon alles andere als einfach war. Schon vor Ausbruch der Krise im Land waren die Bedingungen hart. Etwa ein Jahr nach Beginn der Krise musste Houras Ehemann operiert werden und ist seitdem nicht mehr arbeitsfähig. Die siebenköpfige Familie ist nun für ein Einkommen auf ihre älteste Tochter Wafa angewiesen. Wafa verdient mit ihrer Arbeit in der Landwirtschaft nur wenig, und die Arbeit ist unbeständig - manchmal hat sie tagelang keine Arbeit. Für die Familie ist die einzige Möglichkeit zu Überleben, die Vorräte zu rationieren, die Anzahl der Mahlzeiten pro Tag zu reduzieren und nach zusätzlicher Unterstützung Ausschau zu halten.

Zwei der fünf Kinder von Houra. Die älteste Tochter, Wafa (nicht im Bild), ist aufgrund der Arbeitsunfähigkeit des Vaters die Alleinverdienerin der Familie. ©Medair/Abdul Dennaoui

Wie viele andere der 1,5 Millionen Geflüchteten im Libanon haben auch Houra und ihre Familie derzeit nur begrenzten Zugang zu lebensnotwendigen Gütern. Trotz einer gewissen Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft, die von Mittelkürzungen betroffen ist, muss Houra immer noch zusätzliche Hilfe finden, um Essen auf den Tisch zu bringen und andere grundlegende Bedürfnisse zu stillen.

Mit ihren Töchtern an ihrer Seite erklärt Houra: "Wir sind gezwungen, unsere Vorräte und das wenige Einkommen, das wir haben, zu rationieren. Wir müssen jeden Tag sehen, wie wir überleben. Trotz aller Widrigkeiten müssen wir überleben. Es ist schwierig, eine siebenköpfige Familie zu ernähren, vor allem, wenn das Familienoberhaupt arbeitsunfähig ist. Ausserdem sind die Preise so sehr gestiegen, dass unsere Schulden noch höher sind. Bei jedem Besuch im Lebensmittelgeschäft zahle ich, wenn möglich, einen Teil der Schulden ab, damit ich weiterhin Lebensmittel für meine Familie kaufen kann. Wir haben die Anzahl der Mahlzeiten pro Tag reduziert, um die Lebensmittelkosten zu senken. Selbst wenn ich für meine Familie koche, achte ich sehr darauf, die Portionen zu rationieren, um sicherzustellen, dass genug für alle da ist. Als Mutter bricht es mir das Herz, dass dies unsere derzeitigen Lebensbedingungen sind. Mein Mann und ich sind nicht mehr jung. Ich bin herzkrank, und er ist aufgrund der Operation von vor einem Jahr arbeitsunfähig. Wir brauchen beide Medikamente, die wir uns nicht leisten können. Je nach unseren Bedürfnissen geben wir einem Medikament den Vorrang vor dem anderen. Meistens sind die Medikamente, die wir brauchen, jedoch so teuer, dass wir sie uns nicht leisten können. Der alltägliche Kampf wird immer schwieriger. Meine Familie und ich haben Bedürfnisse, aber wir sind nicht in der Lage, sie zu erfüllen. An den meisten Tagen fühlt es sich an, als würden die Mauern auf uns zukommen. Die Situation verschlimmert sich immer weiter, und ich habe Angst vor der Zukunft. Was ist, wenn ich an den Punkt komme, an dem ich meine Familie nicht mehr ernähren kann? Was passiert dann?”

In der Vergangenheit konnten sich die Menschen auf die Unterstützung ihrer Gemeinschaften, Nachbarn oder Bekannten verlassen. Die meisten Menschen waren bereit zu helfen. Im aktuellen Kontext hat sich die Situation jedoch völlig verändert. Die meisten Familien kämpfen darum, sich über Wasser zu halten. “Es fühlt sich an, als würden wir alle langsam ertrinken”, so Houra.

Während Houra sprach, konnte ich spüren, wie schwer ihr Herz vor Kummer war. Ihre Familie verlässt sich völlig auf sie und ihre Tochter Wafa. Die Notlage der syrischen Geflüchteten im Libanon ist eine harte Realität.

Naji, Medair-Assistent für Basishilfe, und Rola, Medair-Mitarbeiterin, führen am 20. Juni 2024 ein Gespräch mit Houra, um mehr über ihre Situation und Bedürfnisse zu erfahren. ©Medair/Abdul Dennaoui

Die Medair-Dienste im libanesischen Bekaa-Tal werden vom Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), dem Europäischen Amt für humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz (ECHO) sowie von privaten Spenderinnen und Spendern finanziert.

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

September 9, 2024
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