Geschichten

Oh, mein Beirut

Hiba Hajj Omar, Medairs Kommunikationsbeauftragte in Libanon, schätzte mit dem ersten Einsatzteam die Lage ein. Tief bewegt sagt sie:

Ich kann immer noch nicht glauben, was ich gesehen habe.

Ich kann nicht in Worte fassen, was ich empfand, als ich zwei Tage nach der katastrophalen Explosion durch die Strassen von Beirut ging. Ich weiss nicht, ob es Trauer, Angst oder Wut war. Menschen sind gestorben und Hunderte werden noch immer unter den Trümmern vermisst. Tausende sind verwundet. Nicht zu vergessen Millionen gebrochener Herzen und geplatzter Träume.

Je mehr ich den alten Spuren des Beiruts nachspüre, das ich einst kannte, desto mehr Schmerz sehe ich. Zerbrochenes, blutverschmiertes Glas liegt überall, welches das Leiden der Söhne und Töchter Beiruts offenbart. Die Luft, die einst vom Duft nach Jasmin- und Zitronenbäumen erfüllt war, riecht nach Staub und Blut. Beirut ist hoffnungslos, müde und zerstört.

Herzzerreissende Geschichten von Verlust, Schmerz und Trauma spielen sich hinter diesen Kulissen ab. Niemals werde ich die Worte der Menschen vergessen, denen ich heute begegnet bin: «Ich habe meine Mutter vor meinen Augen sterben sehen». «Letzte Nacht musste ich wie die Hunde auf der Strasse schlafen.» «Ich bin vom Balkon meines Hauses gefallen und weiss immer noch nicht, ob meine Söhne in Sicherheit sind.» «Können Sie sich vorstellen, wie es unter dem Verband auf meinem Gesicht, meinen Händen und Beinen aussieht?» «Wäre ich doch gestorben.» «Ich habe alles verloren: meine Träume, mein Haus, meine Arbeit, meine Erinnerungen, meinen Laptop, mein Handy, meine Bücher, meine Pflanzen, meine Bilder und das Tagebuch, das meine Mutter für mich geschrieben hatte. Mein Leben hat keinen Sinn mehr – ich habe verloren, verloren, verloren, ich bin verloren …» «Nie werde ich diesen Ort verlassen. Ich werde hier sterben, egal was passiert.» «Wenn ich meine Augen schliesse, sehe ich die orangefarbene Rauchwolke wieder, die mein Leben, wie ich es vorher kannte, von einem Moment auf den anderen beendete.» «Wir haben nicht einmal Wasser, um das Blut abzuwaschen.»

Ich sah eine Mutter leise weinend und geschockt vor ihren Kindern stehen. Ich beobachtete einen Vater, der verzweifelt die Trümmer seiner Werkstatt durchwühlte – die Werkstatt, die seine Familie mit dem Lebensnotwendigen versorgt hatte. Ich verfolgte, wie eine Familie ihr Auto mit Lebensmitteln, Matratzen und Kissen belud, dessen Fenster durch Trümmer eingeschlagen worden waren. Sie verliessen ihr Haus, um für ihre beiden Mädchen und ihr Neugeborenes eine geeignete Unterkunft zu finden.

Die Trümmer, die einst ein Haus waren. Karantina, Beirut, 6. August 2020
Während ich hier in den Strassen der Stadt stehe, die ich liebe, kann und will ich die Schwäche Beiruts nicht akzeptieren, denn ich weiss, dass die Menschen viele Jahre lang sehr gelitten haben und eine Menge überstehen mussten. Schon vor dem Chaos der Explosion litten die Familien im Libanon unter der zusammenbrechenden Wirtschaft, der Währungsabwertung, der COVID-19-Pandemie und der syrischen Flüchtlingskrise.

Beirut ist nicht schwach, und auch die Menschen, die dieses Land ihr Zuhause nennen, sind es nicht. Bereits am ersten Tag nach der Katastrophe kamen Menschen aus dem ganzen Land nach Beirut, um Familien beim Aufräumen zu helfen und die noch lebenden Menschen zu retten. Deshalb waren meine Kollegen von Medair und ich in den vergangenen Tagen in Beirut im Einsatz, um Trümmer wegzuräumen, den Bedarf an lebensnotwendigen Haushaltsgegenständen einzuschätzen und Hilfe im Bereich Unterkünfte bereitzustellen.

Beirut braucht uns. Inmitten der Zerstörung bin ich heute Zeuge einer Tragödie geworden, die in die Geschichtsbücher eingehen wird. Bücher, die über eine Nation sprechen werden, die alle Arten von Trauer und Schmerz ertragen musste. Dennoch, eine Nation, die niemals aufgeben wird.

Medair hat ein Hilfsprogramm in der Höhe von 3 Millionen Franken gestartet, welches den Fokus auf den sofortigen und dringenden Bedarf an Unterkünften und die psychologische Erstversorgung richtet. Wir haben die Verantwortung für Gemmayzeh, eines der am stärksten verwüsteten Stadtviertel übernommen, das als das «Herz Beiruts» bekannt ist. Die Katastrophe verschlimmert das Leiden der Menschen im Libanon, die bereits unter den Auswirkungen einer grossen Wirtschaftskrise und COVID-19 leiden.

Durch Ihre heutige Spende können wir dringende sofortige Unterstützung für Bedürftige leisten. Jetzt spenden.

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