Geschichten

Häuser hochwassersicher machen

Flood resilient shelter and roof construction on grass at the compound of the University of Juba.

Überschwemmungen sind eine ständige und immer wiederkehrende Bedrohung im Südsudan. Das steigende Wasser zerstört die Lebensgrundlagen der Menschen und vertreibt sie aus ihren Häusern. ©Medair/Markus Zorn

Jedes Jahr zerstören Naturkatastrophen wie Überschwemmungen Tausende von Häusern und rauben den Menschen ihr Zuhause. Humanitäre Nichtregierungsorganisationen verteilen seit Jahrzehnten Bausätze für Notunterkünfte, um Hilfe zu leisten. Es besteht aber stets die Gefahr, die von der Krise betroffenen Menschen in Abhängigkeit zu bringen. Da der Südsudan nach wie vor von chronischen Notsituationen heimgesucht wird, sind neue Ansätze erforderlich. Die lokalen Gemeinschaften müssen in ihrer Bereitschaft gestärkt werden, damit der Teufelskreis von Katastrophe und Wiederaufbau durchbrochen werden kann.

Im Jahr 2021 startete Medair in Zusammenarbeit mit dem Structural Xploration Lab der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) und dem Department of Engineering and Architecture der University of Juba ein Forschungsprojekt über hochwasserresistente Unterkunftslösungen. Finanziert wird das Projekt von Tech4Dev. Ziel ist es, eine Unterkunftsmöglichkeit zu entwickeln, die, nach dem Prinzip der Katastrophenrisikominderung, nachhaltiger und widerstandsfähiger auf Notfälle reagiert.

Das Design der Unterkunft basiert auf den traditionellen Tukul-Häusern, die im gesamten Südsudan zu finden sind. Ein Bausatz für eine Unterkunft bietet zwei Arten von Zusammenstellungen, die in verschiedenen Phasen des Wiederaufbauprozesses eingesetzt werden können.

Die erste Zusammenstellung, die für die Phase des Nothilfeeinsatzes konzipiert wurde, ist eine provisorische A-Rahmen-Unterkunft, die einem Zelt ähnelt und fast überall aufgestellt werden kann. Sie bietet einen einfachen Schutz vor Wind, Regen und Sonne.

Die zweite Zusammenstellung ist für die Wiederaufbauphase geeignet. Mit Materialien aus dem Bausatz kann ein Dach errichten werden. Die Dachkonstruktion ist eine mittel- bis langfristige Lösung, die eine einfache Wandstruktur oder Pfähle als Fundament erfordert. Das Walmdach mit vier gleichen Seiten passt auf die gängigsten Bauformen im Südsudan und kann den Menschen helfen, ihre Häuser wiederaufzubauen oder sich an einem neuen Ort niederzulassen.

Training participants tying knots of a bamboo tukul roof construction with rubber ropes.

Überschwemmungen sind eine ständige und immer wiederkehrende Bedrohung im Südsudan. Das steigende Wasser zerstört die Lebensgrundlagen der Menschen und vertreibt sie aus ihren Häusern. ©Medair/Markus Zorn

Das Projekt durchlief mehrere Forschungs- und Testphasen, um sicherzustellen, dass es den wichtigsten Anforderungen gerecht wird. In der ersten Phase wurden die bestehenden traditionellen hochwassersicheren Baulösungen und Materialien im Südsudan untersucht.

Dünne, aber starke Gummistränge aus alten Autoreifen sind im Südsudan weit verbreitet. Dem Team gelang es, das Material zu verbessern, indem es mehrere Stränge zu einem Seil verdrillte und flechtete. Markus, der Projektleiter vor Ort, sagt: «Das geflochtene Gummiseil ist an sich schon eine kleine Innovation. Durch das Flechten der Litzen wird die Leistung des Materials erheblich gesteigert, was das Gummiseil zu einem ausgezeichneten Material für kostengünstige und schnelle Konstruktionen macht. Darüber hinaus scheint das Potenzial vielversprechend, und der Herstellungsprozess schafft Arbeitsplätze, insbesondere für Frauen.»

Im Anschluss daran führten Architekturstudenten der Universität Juba mit Unterstützung von Medair-Mitarbeitenden eine Marktstudie durch, um verschiedene lokal verfügbare Materialien und Produktionsmethoden zu untersuchen. Der anschliessende iterative Entwurfsprozess zielte darauf ab, nachhaltige Lösungen zu erforschen, die zur Widerstandsfähigkeit der von den regelmässigen Überschwemmungen betroffenen Menschen beitragen.

A male humanitarian worker and a team of students of the University of Juba tying knots to test an emergency shelter design.

Das Prototyping-Team, bestehend aus humanitären Mitarbeitenden und Studierenden der Universität Juba, knüpft Knoten, um das Design der Notunterkunft zu testen. ©Medair/Patricia Gomez

Ein erster Prototyp wurde im EPFL Structural Xploration Lab in Fribourg, Schweiz, gebaut. Das Design wurde auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse angepasst. Für den zweiten Prototyp, der in Juba getestet wurde, arbeitete Medair erneut mit der Universität Juba zusammen, unter anderem mit Studierenden und Lehrkräften der Fakultät für Architektur. Ein zweitägiger Workshop mit lokalen NGOs und dem südsudanesischen Team für Unterkünfte bildete den Auftakt für die Schulung von Ausbildenden im Südsudan. Während des gesamten Planungsprozesses wurde Lehrmaterial erstellt und entsprechend dem Feedback der Workshop- und Schulungsteilnehmenden verbessert.

Anschliessend ging es an die Testphase. Die innovative Lösung sollte in einer von der Flutkatastrophe betroffenen Gemeinschaft getestet werden. Dafür musste zuerst ein geeigneter Standort gefunden werden, den das Team durch Nachforschungen und das Wissen der örtlichen Mitarbeitenden ermitteln konnte. In einem ersten Schritt wurden die Gemeindevorsteher einbezogen und der Prozess besprochen, um sicherzustellen, dass gegenseitiges Einverständnis herrschte, dass die Erwartungen beider Parteien übereinstimmten und man sich über den Prozess einig war. Einige Wochen später wurde mit den Schulungen der Gemeinschaft begonnen. Architekturstudenten und -studentinnen der Universität Juba unterstützten das Medair-Team mit technischem Fachwissen und wertvollen Sprachkenntnissen.

Humanitarian aid workers and members of a community in Juba, South Sudan, are going through instructions to assemble a flood resilient shelter.

Schulung von Ausbildenden mit Mitgliedern der lokalen Gemeinschaft in Juba. Das Projektteam geht die Anweisungen durch. ©Medair/Markus Zorn

Während des gesamten Prozesses wurde darauf geachtet, dass die vorhandenen lokalen Baukenntnisse genutzt wurden, um gemeinsam Wissen zu schaffen und die zukünftige Entwicklung des Projekts zu unterstützen. Die Einbindung der Gemeinschaft war ein Schlüsselelement für eine erfolgreiche und nachhaltige Projektumsetzung. Dank der Schulungen der Gemeinschaftsmitglieder im Bau und in der Instandhaltung der Unterkünfte besitzen sie die notwendigen Fähigkeiten, um in Zukunft unabhängiger zu sein.

Schulungsteilnehmer knüpfen mit aus alten Autoreifen hergestellten Gummiseilen Knoten für eine Tukul-Dachkonstruktion aus Bambus. ©Medair/Markus Zorn


A training team connecting trusses of a flood resilient roof construction.

Zusammensetzung des Dachs der Notunterkunft. ©Medair/Markus Zorn

Das gesamte Projekt wurde in enger Abstimmung mit den Menschen in der Gemeinschaft selbst durchgeführt. Auf diese Weise erfuhr das Team mehr über die Benutzerfreundlichkeit des Entwurfs und die Art und Weise, wie die Menschen mit ihm umgehen. Das wertvolle Feedback, das sich daraus ergab, wird nun für eine mögliche Fortsetzung des Projekts für hochwasserfeste Unterkünfte genutzt.

Es war ein bahnbrechendes Projekt, das dazu beiträgt, die humanitäre Hilfe im Bereich Notunterkünfte innovativ zu verbessern. Die grossen Anstrengungen aller Beteiligten ermöglichten es ihnen, voneinander und miteinander zu lernen. Es gibt noch viel zu tun, aber das Team ist zuversichtlich, dass es eine nachhaltige, bessere Zukunft für die Menschen in diesem Land gibt.

A training team connecting trusses of a flood resilient roof construction.

Ein Schulungsteam verbindet die Binder einer hochwasserresistenten Dachkonstruktion. ©Medair/Markus Zorn

 

 


Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

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