Volodymyr und Tamara stehen in ihrem zerstörten Haus in der Ukraine

«Am 8. März 2022 rief mich mein Nachbar an und sagte mir, ich solle schnell nach Hause kommen. Als ich ankam, war mein Haus weg. Alles, was übriggeblieben war, war ein Haufen Ziegelsteine. Es war von einer Fliegerbombe getroffen worden», erzählt der 64-jährige Volodymyr aus der Ukraine.

Wir treffen Volodymyr am Tor seines Hauses. Sofort lenkt er unsere Aufmerksamkeit auf den Zaun, der die Hauptlast der Schäden getragen hat. Er ist mit kleinen Löchern übersät, die vom ständigen Beschuss und von Schrapnellen stammen. Sie zeugen die Gewalt, die hier geherrscht hat. Es ist beängstigend, sich vorzustellen, was in diesem Moment hätte passieren können, wenn sich Menschen in der Nähe des Zauns befunden hätten. «Das ist unser Haus», fuhr Volodymyr fort. Als ich hochschaute und nur ein zerstörtes Gebäude sah, überkam mich ein unheimliches Gefühl.

«Wir hatten seit den ersten Tagen des Konflikts Explosionen gehört. Unsere Tochter und unsere Enkelkinder suchten bei uns Zuflucht. Wir waren insgesamt sieben Personen und versteckten uns im Keller. Es war sehr kalt dort unten. Wir deckten wir uns mit Decken zu, aber unsere dreijährige Enkelin wurde trotzdem krank. Ich konnte nicht einmal den Keller verlassen, um ihr einen heissen Tee zu kochen», fügt Tamara, die Frau von Volodymyr hinzu.

Tamara steht auf dem Hof ihres Hauses

Mehrere Tage lang versteckte sich die Familie im Keller vor dem Beschuss. Bald merkten sie jedoch, dass sie dort nicht mehr lange bleiben konnten, und packten ihre Sachen zusammen, um in ein Nachbardorf zu ziehen. Eine Woche später erhielt Volodymyr die schreckliche Nachricht, dass sein Haus durch eine Fliegerbombe zerstört worden war.

«Ich habe über 20 Jahre meines Lebens dem Bau dieses Hauses gewidmet und mein ganzes Herzblut hineingesteckt,» sagt Volodymyr.

Volodymyr und Tamara laden uns ein, ihr Haus zu betreten. Es gibt kein Dach, und nur ein paar Wände stehen noch. Eine Ikone in der Ecke der Küche fällt mir ins Auge – es ist erstaunlich, dass sie die Bombardierung und das Feuer überlebt hat. Tamara ist meinem Blick gefolgt und erklärt: «Jetzt träumen wir von Frieden, Gesundheit und Kraft, um alles wiederaufzubauen.”

Schon ist es an der Zeit, uns zu verabschieden. Wir machen uns auf den Weg, um eine andere Familie zu treffen, die von Medair unterstützt wurde. Da sie in derselben Stadt wohnen, finden wir uns schon bald darauf in Liudmylas Wohnung wieder.

«Ich möchte mich nicht einmal an die Ereignisse des letzten Jahres erinnern. Sie lösen pure Angst aus», so die 64-jährige Liudmyla.

Sie bittet uns herein, und wir betreten das Wohnzimmer, wo ihr 40-jähriger Sohn Valerii auf einem Stuhl am Fenster sitzt. Aufgrund von Komplikationen bei der Geburt kann er weder sprechen noch laufen und ist auf fremde Hilfe angewiesen. Wir nehmen Platz, dann beginnt Liudmyla, ihre Geschichte zu erzählen.

Liudmyla und ihr Sohn Valerii in ihrer Wohnung

«Als mein Mann noch gelebt hat, war das Leben viel einfacher. Wir haben uns gemeinsam um unseren Sohn gekümmert. Aber vor 11 Jahren ist mein Mann an Krebs gestorben», erzählt Liudmyla.

Wie die meisten Menschen in der Ukraine hörte Liudmyla am 24. Februar letzten Jahres Explosionen. Mehrere Tage lang blieben sie und ihr Sohn zu Hause. Doch als die Explosionen lauter wurden und Panzer in der Nähe lauerten, wurde die Situation immer beängstigender. Sich in einem Bunker zu verstecken, kam für sie nicht in Frage, denn Liudmyla hätte ihren erwachsenen Sohn nicht auf dem Arm tragen können. So beschloss sie, in ein anderes Dorf zu fliehen. «Wir kamen in einem unfertigen Haus unter. Es gab keinen Fussboden und keine Möbel. Nur einen Ofen. Wir benutzten ihn, um uns warm zu halten und zu kochen», erzählt Liudmyla. Was ihr besonders grosse Sorgen bereitete, war die Schwierigkeit, an Medikamente für ihren Sohn zu kommen. Valerii ist auf spezielle Beruhigungsmittel angewiesen, die er täglich einnehmen muss. «Vor einem Jahr waren sie fast unmöglich zu finden», so Liudmyla.

Während Liudmyla ihre Geschichte erzählt, hört ihr Tetiana Zaskoka vom Medair-Team konzentriert zu.

«Wissen Sie, es kam niemand, um mir und meinem Sohn zu helfen – und wir brauchten wirklich Unterstützung. Als ich den Anruf von Medair erhielt, hatte ich das Gefühl, das Leben sei wieder lebenswert. Sie stellten mir Fragen über unsere Situation und unsere Bedürfnisse, um herauszufinden, wie sie uns unterstützen können. Ich war so dankbar, dass sich jemand die Zeit nahm, sich um mich und meinen kranken Sohn zu kümmern», sagt Liudmyla.

Medair konnte schon über 1000 Betroffene in der ukrainischen Region Sumy mit Bargeld unterstützen.

Der beschädigte Zaun vor Volodymyrs und Tamaras Haus


Die Ruinen des Hauses von Volodymyr und Tamara

 

 


 

Die Massnahmen von Medair in der Ukraine werden von PMU, CDB, CEDAR und Tearfund NZ finanziert.

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.