Geschichten

Unter Gottes Flügeln

Unterstützung für die Helfenden in befreiten ukrainischen Städten

«Wir haben Leichen gesehen; sie lagen auf der Strasse und in Autos. Meine Frau verdeckte mit ihren Händen die Augen unserer 4-jährigen Tochter, um sie vor dem Schrecken zu schonen. Wir erfuhren, dass unsere Wohnung abgebrannt war. In einem einzigen Augenblick verloren wir alles, was wir besassen», sagt der 42-jährige Serhiy. Er ist Pastor der Vifaniia-Kirche in Butscha, Ukraine.

Ich treffe Serhiy im Hof der Kirche. Es wird langsam dunkel und der Pastor lädt mich freundlich ein, hineinzukommen. Wir gehen schon auf das Gebäude zu, da wird unser Gespräch von einer Passantin unterbrochen. Sie steht am Tor und fragt, ob sie einen Kiefernzweig mitnehmen darf. Serhiy erklärt, dass die riesige Kiefer im Hof der Kirche krank gewesen sei und kürzlich gefällt werden musste, damit sie nicht auf die Strasse fällt. Er bittet die Frau in den Hof und bricht eigenhändig einige Äste ab. Freude breitet sich auf dem Gesicht der Frau aus. Sie werde die Zweige in eine Vase stellen, als Erinnerung daran, dass sie beschützt werde, erklärt sie uns. Dass ihr Haus während der Kampfhandlungen nicht beschädigt wurde ist für sie ein Wunder. Sie macht sich auf den Heimweg und Serhiy lädt mich in die Küche im Keller der Kirche ein. Er kocht etwas Tee mit Zimt, und der Duft erfüllt sogleich den Raum. Dann fängt er an, zu erzählen.

Der Pastor der Vifaniia-Kirche in Butscha spricht mit einer Frau

Serhiy, ein 44-jähriger Pastor, spricht mit einer Frau, die am 29. Dezember 2022 in Butscha in die Kirche kommt, um ein paar Kiefernzweige zu holen, mit denen sie ihr Zuhause für das neue Jahr schmücken will.

«Seit meiner Kindheit bin ich ein religiöser Mensch. Mein Vater, mein Grossvater und mein Urgrossvater waren alle Priester. Meinen Kirchendienst begann ich vor mehr als 20 Jahren, als die Vifaniia-Kirche gerade gebaut wurde. Sie ist die erste evangelische Kirche in Butscha. Bis zum 24. Februar, als der Konflikt begann, verband ich nur gute Erinnerungen mit diesem Ort», sagt Serhiy.

Beginn des Konflikts

Der Pastor wurde von den vibrierenden Fenstern seiner Wohnung aus dem Schlaf gerissen. Er hörte Explosionen. «Mir wurde klar, was da gerade seinen Anfang nahm. Als meine Familie aufwachte, schickte ich sie sofort in die Kirche. Zwei Wochen zuvor hatten wir bereits verkündet, dass im Falle eines plötzlichen Konflikts die Menschen in der Kirche unterkommen könnten. Wasser, Lebensmittel und einen Generator hatten wir bereits gekauft. Wir nahmen an, dass die Situation sehr schnell vorbei sein würde und dass etwa 50 Menschen kommen würden. Wir hatten Vorräte für nur für zwei Tage», erklärt Serhiy und gibt Zucker in eine Tasse. Er erzählt auch von einem Gespräch zwischen ihm und seiner Frau. Er hatte sie gebeten, ihre drei Kinder an einen sicheren Ort zu bringen. «Sie weigerte sich, ohne mich zu gehen. Also blieben wir in Butscha», sagte Serhiy mit einem Anflug von einem Lächeln.

«Wir haben Panzer gesehen, wir haben Explosionen gehört. Verängstigte Menschen rannten durch die Strassen, auf der Suche nach einem Versteck. Sie klopften an die Tür und baten um Einlass. Und so waren dann innerhalb weniger Tage 170 Menschen in unserer Kirche untergebracht. Die Vielfalt war erstaunlich! Unter uns waren Christen, Muslime, Orthodoxe, Zeugen Jehovas und sogar Atheisten, und alle kamen gut miteinander zurecht», sagt Serhiy. Die Kirche bot einen sicheren Unterschlupf für Menschen jeden Alters, ob für ein sechs Monate altes Baby oder eine 92-Jährige Grossmutter.

«Anfangs reichte das Essen für alle. Als wir aber immer mehr wurden, hatten wir Angst, dass wir nicht mehr jeden versorgen könnten. Als es überhaupt keine Lebensmittel mehr gab, zog meine Frau während des Bombardements mit einem Diakon los, um Lebensmittel aus den Häusern der Menschen zu holen, die sich bei uns im Keller befanden. Sie gaben meiner Frau ihre Schlüssel und sagten ihr, wo die Lebensmittel gelagert waren. Wir machten uns grosse Sorgen, dass uns das Brot ausgehen würde. Aber Gott half uns. An jenem Abend legte jemand eine grosse Tüte Brötchen in die Nähe des Zauns der Kirche», erzählt Serhiy.

 Serhiy, a 44-year-old pastor is standing near Vifaniia Church in Bucha, Ukraine

Serhiy, ein 44-jähriger Pastor, steht bei der Vifaniia-Kirche, in der während der Besatzung 170 Gemeindemitglieder unterkamen. Das Foto wurde am 29. Dezember 2022 in Butscha in der Ukraine, aufgenommen.

Während der Besatzung

Ungefähr eine Woche nach Beginn des Konflikts fiel der Strom aus. Vom Keller der Kirche konnten wir draussen die Soldaten hören. Eines Tages kam ein Offizier herein. Möglicherweise hatte der Generator ihn auf die Unterkunft aufmerksam gemacht. Das Gerät wurde nur zweimal am Tag eingeschaltet, damit die Menschen ihre Handys aufladen konnten. Nach einer kurzen Überprüfung von Serhiys Papieren wies der Offizier die Leute an, so lange wie möglich drinnen zu bleiben. Auch empfahl er ihnen, keine schwarze Kleidung zu tragen.

Serhiy erzählt von den Dingen, die er auf den Strassen von Butscha gesehen hat, und von der verzweifelten Suche nach mehr Nahrungsmitteln. «Ich habe Lebensmittel aus zerstörten Geschäften mitgenommen. Sie waren schon verdorben, aber wir mussten sie essen, weil es nichts anderes gab», sagt Serhiy. Man sieht die Traurigkeit in seinen Augen.

Er hält einen Augenblick inne, dann wendet er sich positiveren Momenten zu. Auch bei so vielen Menschen im Keller fühlten sich alle wohl, berichtet er. Sie wechselten sich mit Putzen, Kochen und Bücherlesen ab. Er habe versucht, einige Aktivitäten zu initiieren, um die Leute abzulenken. Gleichzeitig sei ihm klar gewesen, dass sich die Situation zuspitzte. Die fehlenden Lebensmittel seien ein grosses Problem gewesen.

«Wir haben 14 Tage in unserem Unterschlupf gelebt, bis wir feststellen mussten, dass wir hier nicht länger bleiben konnten. Wir brauchten eine Rettung. Wir setzten alle Leute in Autos und fuhren in einer Kolonne. Das nannten wir den «grünen Korridor». Ich betete zu Gott, dass alle überleben», so Serhiy.

The shelter below the church

Der Keller der Vifaniia-Kirche am 29. Dezember 2022 in Butscha. 170 Gemeindemitglieder kamen dort unter und retteten sich so vor Beschuss und Explosionen. Der jüngste Bewohner war nur ein halbes Jahr alt, der älteste 92. Die Menschen schliefen abwechselnd auf dem Boden, weil es nicht genug Platz für alle gab.

Zurück nach Hause

«Wir haben Leichen gesehen; sie lagen auf der Strasse und in Autos. Meine Frau verdeckte mit ihren Händen die Augen unserer 4-jährigen Tochter, um sie vor dem Schrecken zu schonen. Wir erfuhren, dass unsere Wohnung abgebrannt war. In einem einzigen Augenblick verloren wir alles, was wir besassen», sagt Serhiy.

Serhiy und seine Familie kehrten so schnell sie konnten – etwa einen Monat später – nach Hause zurück. Da ihr Haus zerstört worden war, kamen sie wieder im Keller der Kirche unter. Mir wird bewusst, dass ich nun mit Serhiy in demselben Keller aus seinen Geschichten sitze, und ich bekomme Gänsehaut. Ich versuche, mich in die Lage dieses Mannes zu versetzen und weiss, dass mir die Geduld, die Kraft und der Mut fehlen würden, um diese Strapazen zu überstehen.

«Wir haben hier sogar den Geburtstag meiner Tochter gefeiert», sagt er. «Schau, da drüben haben wir Peppa Pig an die Wand gemalt, das ist ihr Lieblings-Cartoon», sagt Serhiy mit einem Lächeln. «In dieser Zeit habe ich vieles neu überdacht, insbesondere den Wert des Lebens. Mein Glaube an Gott ist gestärkt worden. Du lernst, Tag für Tag zu leben und dankbar zu sein für jede kleine Sache, die du hast. Viele Bekannte ausserhalb der Ukraine haben uns zu sich eingeladen. Aber ich habe das Gefühl, dass ich hier sein soll.»

The wall in basement of Vifaniia Church

Die Wand im Keller der Vifaniia-Kirche am 29. Dezember 2022 in Butscha. 170 Gemeindemitglieder kamen dort unter und retteten sich so vor Beschuss und Explosionen. 

«Als Pastor sehe ich, dass manche Menschen weder Hoffnung noch Glauben in sich tragen. Ich wünsche mir, dass die Menschen Frieden und Liebe in ihren Herzen finden», sagt Serhiy.

Medair kam in Butscha an, kurz nachdem das Gebiet befreit worden war. Die Häuser in der Gegend hatten weder Strom noch Wasser, und viele waren beschädigt oder geplündert worden. Die Kirche blieb ein Ort, an dem die Menschen Hilfe suchten. Unser Team besorgte eine Waschmaschine, einen Trockner, einen Gasherd, eine Mikrowelle und eine Spülmaschine für die Küche in der Vifaniia-Kirche. Menschen, die anderen helfen, wurden in psychologischer Erster Hilfe geschult.

«Diese Schulungen waren sehr hilfreich für mich. Eine Frau kam in die Kirche und sagte zu mir: «Mein Mann wurde vor meinen Augen getötet.» Das ist keine Seltenheit. Jetzt weiss ich, wie ich mit diesen Menschen sprechen und wie ich ihnen helfen kann. Ich sage ihnen immer, dass wir das gemeinsam durchstehen», sagt Serhiy.

 

The pastor is standing in empty prayer hall of the church

Serhiy, ein 44-jähriger Pastor, steht am 29. Dezember 2022 im Gebetssaal der Vifaniia-Kirche in Butscha in der Ukraine.


The bicycle is parked in the basement of church

Das Fahrrad im Keller der Vifaniia-Kirche am 29. Dezember 2022 in Butscha. 170 Gemeindemitglieder kamen dort unter und retteten sich so vor Beschuss und Explosionen. Der jüngste Bewohner war nur ein halbes Jahr alt.


The basement of Vifaniia Church in Bucha

Der Keller der Vifaniia-Kirche am 29. Dezember 2022 in Butscha. 170 Gemeindemitglieder kamen dort unter und retteten sich so vor Beschuss und Explosionen. Der jüngste Bewohner war nur ein halbes Jahr alt, der älteste 92. Die Menschen schliefen abwechselnd auf dem Boden, weil es nicht genug Platz für alle gab.

 


Die Arbeit von Medair in der Ukraine wird von der Glückskette, der Cartier Foundation, Mission East, World Vision, PMU Sweden, Tearfund UK, Tearfund New Zealand und anderen grosszügigen Organisationen und Privatpersonen unterstützt.

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

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