Geschichten

«Mein Licht in den dunkelsten Stunden»

Eine Mutter erzählt von den Erdbeben in Syrien

«Wir umarmten uns im Schlaf, um uns warm zu halten, und sprachen ein Gebet, damit wir die Katastrophe überstehen würden. Ich wusste nicht, was ich als Nächstes tun sollte. Ich hatte Angst, aber meine Kinder waren mein Licht in den dunkelsten Stunden», sagt Mounfed.

Die verheerenden Erdbeben vom 6. Februar 2023 richteten sowohl in Syrien als auch in der Türkei weitreichende Zerstörung an und lösten mehr als 11 000 Nachbeben aus. Die Auswirkungen der Erdbeben waren in der gesamten Region zu spüren und verursachten immenses Leid.

In Aleppo können Menschen, die nicht nach Hause zurückkehren können oder sich fürchten, in ihren Häusern zu bleiben, in Sammelunterkünften unterkommen. Dabei handelt es sich meist um Schulen oder Moscheen, die nicht unbedingt als Wohnraum für Familien geeignet sind. Medair kümmert sich darum, dass die Sammelzentren über gute sanitäre Anlagen und ausreichend sauberes Wasser verfügen. Ich begleitete unser für Wasser, sanitäre Anlagen und Hygiene zuständiges Team auf ihrem Besuch eines Sammelzentrums. Es war eine herzzerreissende Erfahrung, die mir das Leid, das so viele Menschen ertragen müssen, deutlich vor Augen geführt hat.

Bei der Unterkunft, die wir besuchten, handelt es sich um eine öffentliche Schule. Sie besteht aus einem grossen, offenen Gelände, in dem Hunderte von Menschen in Klassenzimmern oder in Zelten auf dem Hof leben. Eingestürzte Gebäude und Trümmer umgeben sie. Am Tag unseres Besuches wehten Windböen grosse Trümmerwolken auf.

Trotz der beengten Lebensbedingungen in den überfüllten Klassenzimmern herrschte eine überraschend gute Stimmung. Ich konnte sehen, wie stark und resilient die Menschen sind. Trotz ihrer Erlebnisse hatten sie noch Hoffnung und taten alles, um das Beste aus ihrer Situation zu machen. Andere versuchten noch, das Erlebte zu verarbeiten.

Vor dem Erdbeben lebte Mounfed, 43 Jahre alt, in Al Fardous, nur zwei Blocks von der Sammelunterkunft entfernt. Ihr Haus wurde von den Behörden als unsicher eingestuft; eine Rückkehr ist nicht mehr möglich. Jetzt wohnt sie zusammen mit ihrer Familie in der Unterkunft, wo sie sich ein Klassenzimmer mit einer anderen einheimischen Familie aus Aleppo teilen. Gemeinsam mit ihren drei Kindern – zwei Töchtern und einem Sohn – kämpft Mounfed hier nun täglich ums Überleben.

A woman wearing hijab comes from behind the curtain.

Mounfed (43) fand mit ihrem Sohn und ihren zwei Töchtern Zuflucht in der Zuhair-Schule, die derzeit in Al Fardous, Aleppo, als Sammelunterkunft dient. ©Medair/Abdul Dennaoui

«In der Nacht des Erdbebens schliefen meine Familie und ich tief und fest. Angst, Angst, Angst – ich bekomme Gänsehaut, wenn ich nur daran denke», sagt sie und streicht mit ihrer Hand über ihren Arm.

«Ich wachte voller Angst auf, als das Gebäude bebte, und hörte meiner Kinder nach mir rufen. «Mama, Mama!», war alles, was ich hörte. In ihren Stimmen lag so viel Angst, es war schrecklich», erinnert sie sich.

«Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken. Die Sicherheit meiner Kinder hatte für mich oberste Priorität. Ich wusste, dass ich meine Kinder in Sicherheit bringen musste – das war alles, was zählte. Ich eilte so schnell ich konnte zum Schlafzimmer meiner Kinder, damit wir das Gebäude so schnell wie möglich verlassen konnten. Die Geräusche des bebenden Gebäudes und der splitternden Wände waren furchteinflössend. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, «jetzt sind wir dran, wir werden es nicht schaffen.» Aber ich war fest entschlossen, meine Kinder in Sicherheit zu bringen. Ich drängte sie, die Treppen hinabzulaufen. Ich selbst brauchte dafür etwas länger. Wie Sie sehen können, bin ich eine Person von kleiner Statur. Meine Beine sind nicht mehr so stark, wie sie einmal waren. Als ich jung war, wurde ich mehrfach operiert, um eine Knochendeformation zu korrigieren, aber es gab auch Rückschläge. Ich bin sehr dankbar, dass ich noch alleine laufen kann. Es ist etwas mühsam, aber ich schaffe es. Ich bin ein sehr entschlossener Mensch. Nachdem ich meine Kinder nach unten geschickt hatte, schaffte auch ich es zum Glück noch nach unten», sagt sie, während ihr Atem sich wieder beruhigt.

A humanitarian aid worker speaks with an affected Syrian community member.

Ammar, Projektmanager für Wasser, sanitäre Anlagen und Hygiene von Medair, spricht mit Mounfed, einer 43-jährigen Überlebenden mit besonderen Bedürfnissen aus Aleppo. Sie fand mit ihrem Jungen und ihren zwei Mädchen Zuflucht in der Zuhair-Schule, die derzeit in Al Fardous als Sammelunterkunft dient. ©Medair/Abdul Dennaoui

Mounfed und ihre Kinder verbrachten mehrere Tage unter freiem Himmel, bevor sie zur Sammelunterkunft fanden. «Die Nächte waren dunkel, lang und kalt», erinnert sie sich. «Wir umarmten uns im Schlaf, um uns warm zu halten, und sprachen ein Gebet, damit wir die Situation überstehen würden. Ich wusste nicht, was ich als Nächstes tun sollte. Ich hatte Angst, aber meine Kinder waren mein Licht in den dunkelsten Stunden», sagt sie, während ihr Tränen in die Augen treten.

«Der Tag nach den Erdbeben war eine einzige Katastrophe. Überall lagen Schutt und Trümmer. Viele andere waren auch auf den Strassen unterwegs, und es hörte nicht auf zu regnen. Ein paar Gebäude gegenüber von unserem Haus waren durch die Stärke des Bebens vollständig eingestürzt. Es war ein beängstigender Anblick. Ich starrte auf die Trümmer und mir wurde klar, dass wir hätten sterben können. Leute schrien, Kinder weinten hysterisch. Andere suchten nach Angehörigen, kämpften sich durch die Trümmer und riefen ihre Namen. Es war so traurig, dass mein Herz schmerzte. Damals wusste ich nicht, dass ich durch das Erdbeben Angehörige verloren hatte. Ich habe bei den Erdbeben drei Menschen verloren, die mir sehr am Herzen liegen. Ich brauchte etwas Zeit, um die Situation zu verarbeiten, aber ich musste für meine Kinder stark bleiben; sie hatten gerade so viel durchgemacht.»

Mounfed konzentriert sich erst einmal darauf, sich um ihre Kinder zu kümmern. «Ich lebe für sie. Jeden Tag nehme ich mir Zeit, um mit ihnen zu reden, damit sie keine traumatischen Spätfolgen erleiden. Wir sprechen darüber, was sie fühlen und wie wir die Situation für uns verbessern können. Wenn sie lachen, denke ich mir, mit Gottes Segen wird es ihnen gut gehen. Sie freuen sich schon sehr darauf, nach Hause zurückzukehren, also bete ich zu Gott, dass uns das möglich sein wird.»

An living area including mattresses, pillows and blankets and a kitchen space.

In dieser Ecke des Klassenzimmers der Zuhair-Schule wohnt Mounfed mit ihrer Familie. Sie haben Matratzen und einige Decken bekommen und sich einen eigenen kleinen Bereich geschaffen. ©Medair/Abdul Dennaoui

Die Kinder fragen, wann sie nach Hause zurückkehren dürfen, und Mounfed antwortet: «Wenn Gott bereit ist, uns nach Hause zurückzubringen.» Manchmal kehrt sie selbst nach Hause zurück, um einige wichtige Dinge wie Kleidung oder Decken zu holen.

«Ich habe überlegt, sie mitzunehmen, aber ich weiss, dass es für sie zu schwierig wäre, nach Hause zu kommen und dann wieder zu gehen – und ehrlich gesagt möchte ich das Risiko in diesem Fall lieber nicht eingehen. Es ist eine schwierige Zeit für unsere Familie. Wir haben ein Zuhause, aber wir können nicht dorthin zurückkehren. Das ist eine Realität, mit der wir leben müssen», sagt sie, und man hört die Traurigkeit in ihrer Stimme.

Ihre Unterkunft teilen sich Mounfed und ihre Kinder mit einer anderen vierköpfigen Familie. Sie haben Matratzen und einige Decken bekommen und sich einen eigenen kleinen Bereich geschaffen. Wenn sie schlafen, liegt Mounfed in der Mitte, damit sie ihre Kinder auf beiden Seiten in den Arm nehmen kann.

«Hier in der Schule werden wir mit allem Wesentlichen versorgt. Dabei ist es mir am wichtigsten, dass wir sauberes Wasser zur Verfügung haben. Sauberes Wasser ist für das Leben und Überleben essentiell. Dass ich hier darauf zugreifen kann, ohne dafür mühsam weit laufen zu müssen, ist wirklich ein Segen. Ich bin ja das Familienoberhaupt aber wegen meiner körperlichen Beeinträchtigung kann ich nicht so weit laufen. Es wäre meiner Familie sonst unmöglich, Zugang zu Trinkwasser zu erhalten. Dafür sind wir wirklich dankbar und fühlen uns gesegnet. Wir haben Glück, dass wir sauberes und sicheres Wasser haben. Wir haben Glück, einander zu haben. Wir haben Glück, Menschen wie euch zu haben, die sich um uns kümmern. Ich werde euch stets in meine nächtlichen Gebete einschliessen. Ohne euch wären wir nicht hier», sagt sie dankbar und lächelt.

Tausende von Menschen suchen Schutz in Sammelunterkünften, die nicht für die dauerhafte Unterbringung von Familien oder für die bittere Winterzeit vorgesehen waren. Wenn die Unterkünfte nicht ausreichend mit Wasser versorgt sind, sorgt Medair dafür, dass jeden Tag Wasserwagen vorbeikommen. Mit Mitteln des Syrian Humanitarian Fund (SHF) versorgt Medair 6 000 Menschen in den betroffenen Gebieten in Aleppo mit insgesamt 50 000 Litern Wasser.

A water truck pumps water to the water tanks on the rood of a building.

Ein Wasserwagen pumpt sauberes Wasser in die Wassertanks auf dem Dach der öffentlichen Schule Zuhair in Al Fardous, Aleppo. Die Schule dient derzeit als Sammelunterkunft. ©Medair/Abdul Dennaoui

 

 


Die Erdbebenhilfe und die Arbeit von Medair in Aleppo werden durch den Syrian Humanitarian Fund (SHF), die Glückskette, die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und die Europäische Union gefördert. 

 

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

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