Geschichten

«Es war wie Armageddon»

Ein Jahr danach: Das Nothilfeteam berichtet vom Einsatz nach den Erdbeben in der Türkei und in Syrien

Es war eine Katastrophe, wie sie sich in dieser Gegend der Welt seit Generationen nicht ereignet hatte. Um 4:17 Uhr in der kalten Winternacht des 6. Februars 2023 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7,8 den Südosten der Türkei und den Norden Syriens. Wenige Stunden später folgte ein weiteres, fast genauso heftiges Beben. Es war das stärkste Erdbeben in der Region seit 84 Jahren. Schätzungen zufolge forderten die Beben und ihre Nachbeben mehr als 55 000 Todesopfer, zahlreiche Menschen wurden verletzt und Millionen obdachlos.

Am darauffolgenden Morgen machte sich das Medair-Nothilfeteam umgehend auf den Weg in die Türkei. Das Beben hatte 313 000 Häuser zerstört, im ganzen Land herrschten Angst und Schrecken.

«Ich erinnere mich genau, wie es roch. Der Staub hing noch in der Luft und Rauch stieg auf. Die Panik war überall zu spüren», berichtet der Beauftragte für Nothilfeeinsätze Damon Elsworth von der Ankunft des Teams in Antakya. «In dieser Stadt mit 350 000 Einwohnern – der antiken Stadt Antiochia – stand kaum noch ein Gebäude.»

«Überall sah man Blaulicht und hörte Sirenen, dazu die Stimmen und Geräusche von Such- und Rettungsmannschaften mit Kränen und Baggern. Plötzlich ertönten Pfiffe, und der Lärm verstummte auf der Stelle. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Alle Menschen in Hörweite mussten still sein, als die Abhörgeräte eingesetzt wurden, um die Rufe zu orten, die aus den Trümmern kamen.»

«Ausserhalb eines Kriegsgebietes habe ich noch nie so viel Verwüstung gesehen», hält Damons Kollegin Rebekah Rice fest. «Es war wie Armageddon. Noch Tage später liefen die Menschen in ihren Pyjamas herum, weil die Katastrophe sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Alle ihre Kleider waren unter den Trümmern verschüttet. Wir fuhren vorbei an umgekippten Häusern, aus deren Fenstern Betten, Kühlschränke und Waschmaschinen herausragten. Das Schlimmste waren jedoch die Menschen, die in der Nähe der Rettungsteams um Feuerstellen versammelt waren und auf Nachricht von ihren Liebsten warteten.»

«Das Ausmass dieser Naturkatastrophe ist noch immer schwer zu fassen», sagt der Leiter des internationalen Nothilfeteams, James McDowell. «Die immense Zerstörung erstreckt sich auf eine Fläche der Grösse Deutschlands. Das war das fünfttödlichste Erdbeben dieses Jahrhunderts und das tödlichste Erdbeben in der Geschichte der modernen Türkei seit 526 n. Chr.»

Da es nur wenige sichere Unterkünfte gab, schlief das Team in den ersten Nächten in einem Lieferwagen. «Es war nicht sehr bequem», gibt Rebekah zu. «Aber ich fühlte mich privilegiert, denn ich wusste, dass ich es wärmer hatte als die Leute in den Zelten um uns herum.» Damon fährt fort: «Irgendwann sank die Temperatur auf minus sieben Grad. Um einsatzbereit zu sein, mieteten wir zwei Lieferwagen, die wir als Unterkunft und zum Transport von Hilfsgütern für die sofortige Verteilung nutzen konnten. So war es möglich, sich aufzuteilen, um verschiedene Orte zu erreichen. Ein Team fuhr direkt ins Gebirge zu einer Gemeinschaft von mehr als 100 000 Menschen, die unter einer Schneedecke in improvisierten Behausungen lebten. Glücklicherweise gelang es uns rasch, Öfen, Zelte und Decken zu kaufen, die wir zusammen mit Partnern an die Notleidenden abgaben. In der Zwischenzeit konnten wir in Antakya mit der Verteilung von Hygienesets beginnen.»

Die Auslieferung von Hilfsgütern erwies sich als äusserst schwierig, da ein beträchtlicher Teil der Infrastruktur zerstört war. In der ersten Woche konnten viele Strassen nicht mehr befahren werden. Der Asphalt hatte grosse Risse, und die meisten Strassen waren durch Schutt blockiert, so dass nur schmale Gassen passierbar waren.

«Ein professioneller Sattelschlepperfahrer meldete sich freiwillig, um uns zu unterstützen. Das grenzt an ein Wunder! Denn es bedurfte wirklich einiger Fahrkünste, sich durch die Trümmer zu schlängeln», erzählt Rebekah weiter. «Am zweiten Abend schlug uns der Trucker vor, in eine einige Stunden entfernte Stadt zu fahren, um dort Hilfsgüter für die Verteilung am nächsten Tag zu besorgen. Dankbar schauten wir uns an und wussten, dass er und wir die gleiche Motivation und das gleiche Mitgefühl teilten.»

«Angesichts all der Not um uns herum fühlte es sich einfach falsch an, ins Bett zu gehen. So beschlossen wir, die Nacht durchzufahren. Noch im Morgengrauen, kaum dass die Geschäfte geöffnet hatten, beluden wir unseren Truck. Wir hatten so viel gekauft, wie wir laden konnten – Seife, Damenhygieneprodukte, Körperpflegeprodukte, Toilettenpapier, Feuchttücher, tonnenweise Schlafsäcke und so viele Zelte, wie wir auftreiben konnten. Bis zum Mittagessen des nächsten Tages waren wir wieder in Antakya und begannen, die Hilfsgüter zu verteilen. Als die Mütter mit ihren Kindern Schlange standen, waren wir sehr froh, dass wir ihnen das geben konnten, was sie am dringendsten brauchten.»

Neben der Verteilung von Hilfsgütern wie Decken, Planen, Zelten, Öfen, Taschenlampen und Hygieneartikeln an 15 000 Menschen führte das Team auch psychologische Erste Hilfe-Sessions durch. «Die Traumata waren offensichtlich», berichtet Damon. «Niemand war verschont geblieben – jeder hatte jemanden verloren, jeder hatte eine schlimme Geschichte. Selbst die am wenigsten Betroffenen hatten Häuser mit grossen Rissen und Kinder, die nachts vor Angst einnässten. Die Partner und Freiwilligen, mit denen wir zusammenarbeiteten, waren genauso traumatisiert wie alle anderen. Deshalb führten wir die Sitzungen zuerst mit ihnen durch.»

In den Monaten nach der Nothilfephase setzte Medair die Zusammenarbeit mit den lokalen Partnern fort, um psychosoziale Unterstützung, Bargeldhilfe und den Bau von provisorischen Unterkünften zu ermöglichen. Zu den Hilfsempfängern gehören auch viele der zahlreichen syrischen Geflüchteten in der Türkei.

In Syrien, wo Medair bereits seit fast einem Jahrzehnt tätig ist, spürten die Mitarbeitenden das Erdbeben sogar von Damaskus aus. «Innerhalb von 24 Stunden waren wir mit einem Nothilfeteam in Aleppo und verteilten die Hilfsgüter in den folgenden zwei Tagen», erzählt Landeskoordinatorin Raija-Liisa Schmidt-Teigen. «Im ersten Monat haben wir unser Team in Aleppo von drei auf 18 Personen aufgestockt. Auch internationale und regionale Kolleginnen und Kollegen wurden eingeflogen, um uns bei der Nothilfe zu unterstützen.»

«Hier jagt eine Krise die nächste. Vor den Erdbeben waren in Syrien 15,3 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. 90 Prozent der Bevölkerung Syriens lebten bereits unterhalb der Armutsgrenze. Die Belastbarkeit der Menschen ist durch vorangegangene Konflikte, eine zusammengebrochene Wirtschaft und eine kaum vorhandene Infrastruktur erschöpft. Wenn dann eine grosse Naturkatastrophe zu einer von Menschen verursachten Katastrophe hinzukommt, stehen die Familien vor der Wahl, entweder ihre Kinder zu ernähren oder ihre zerstörten Häuser zu reparieren.»

Im ersten Monat versorgte unser Team 30 000 Menschen mit Hygienesets, Wintervorräten und Bargeld für Hausreparaturen, transportierte Wasser, baute kommunale Wassertanks und reparierte Wassernetze für 215 000 Menschen in Aleppo. In Latakia wurden beschädigte medizinische Geräte ersetzt, Reparaturen wie der Austausch von Türen und Fenstern in den betroffenen Krankenhäusern durchgeführt und die Öffnungszeiten der Gesundheitsdienste in der Region verlängert. Darüber hinaus führt Medair Hausreparaturen für Familien durch, die behindertengerechte Zugänge benötigen oder andere besondere Bedürfnisse haben.

«Es war eine einzige Katastrophe, die zwei Länder mit sehr unterschiedlichem Hintergrund getroffen hat», resümiert James. «Unsere Hilfsmassnahmen gestalteten sich sehr vielfältig. Ich bin stolz darauf, dass wir es geschafft haben, schnell zu handeln. Wir hatten rasch Zugang zur betroffenen Bevölkerung, auch zu jenen, die sonst keine Unterstützung erhalten hätten. So konnten wir unsere Hilfe auf die konkreten Bedürfnisse und Nöte vor Ort abstimmen. Wie immer in solchen Situationen war es von entscheidender Bedeutung, dass wir Nothilfemittel zur Verfügung hatten, wenn und wo sie gebraucht wurden. Nur so waren wir in der Lage, rasch und flexibel zu reagieren.»

Die Türkei und auch Syrien haben grosse Verluste erlitten. Die Narben werden wohl noch viele Jahre zu sehen sein. Der Weg des Wiederaufbaus ist lang – unsere Arbeit geht weiter. Wir sind dankbar, dass wir Hunderttausenden von Überlebenden in einer Zeit grösster Not lebenswichtige Hilfe leisten konnten.

 

 


Die Einsätze von Medair nach den Erdbeben in der Türkei und in Syrien werden durch institutionelle Geldgeber wie die Glückskette, ECHO, DEZA, DEC (Disasters Emergency Committee) via Tearfund UK sowie von privaten Spenderinnen und Spendern finanziert.

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

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