Eine Sorge weniger

Kutupalong ist das grösste Flüchtlingslager der Welt. Mehr als 600 000 Menschen leben dort in baufälligen, überfüllten Unterkünften auf engstem Raum zusammen.

Rohingya-Krise: Wenn der Monsun das Flüchtlingsdasein erschwert

Kutupalong ist das grösste Flüchtlingslager der Welt. Mehr als 600 000 Menschen leben dort in baufälligen, überfüllten Unterkünften auf engstem Raum zusammen. Das allein ist schon Herausforderung genug. Wenn in Bangladesch zudem der Monsunregen einsetzt, wird die Situation schier unerträglich: Familien, die auf ihrer Flucht kaum etwas mitnehmen konnten, hoffen verzweifelt darauf, dass der heftige Regen und die starken Stürme das Wenige, was ihnen noch bleibt, verschonen. Als unser Team an einem frühen Morgen im Juli zum Einsatz aufbricht, macht sich eine tiefe Besorgnis breit. Seit Tagen regnet es ununterbrochen auf das Flüchtlingslager herab. Esteban Kang, unser Projektleiter für den Bereich Unterkünfte, erklärt besorgt: «Alle Unterkünfte stehen auf sandigem, hügeligem Untergrund. Bei dem Regen ist es schwierig, sie fest im Boden zu verankern.» Bereits vor dem Monsun hatte Medair gemeinsam mit anderen Hilfsorganisationen die Risiken analysiert und Präventionsarbeit geleistet: Zahlreichen Familien wurden Bausätze zur Verstärkung ihrer provisorischen Unterkünfte für besseren Schutz während der Regenzeit verteilt. Aufgrund des Starkregens im Juli entschieden wir uns, einen Nothilfeeinsatz zu starten. Unser Projektleiter für den Bereich Unterkünfte Esteban Kang (rechts) und der Projektassistent Munna Sazzadul (links) besuchen Familien im Lager Kutupalong, um den Zustand deren Unterkünfte zu beurteilen.

Unser «Shelter Team» ist für rund 7000 Haushalte im Lager verantwortlich. Medair-Mitarbeitende sowie Rohingya, die sich freiwillig engagieren, besuchen täglich Familien in ihren Unterkünften, helfen bei Reparaturen und organisieren zusätzliche Unterstützung für besonders Bedürftige.

Am Nachmittag ziehen einmal mehr schwere Wolken auf. Unser Team ist auf dem Weg, um nach Amina* zu schauen. Sofort wird klar, dass die Flüchtlingsfrau dringend Hilfe benötigt: «Ihre Unterkunft steht am Fuss eines Hangs», fällt Esteban auf. «Der Regen hat einen Erdrutsch ausgelöst, der den ganzen hinteren Teil ihrer Hütte beschädigt hat.» Wir sehen uns in ihrer bescheidenen Behausung um. Die gesamte Rückwand fehlt, der Boden ist mit Schlamm bedeckt. «Mein Mann starb in Myanmar», vertraut Amina uns an. «Meine Tochter und ich leben nun alleine hier. Mit dem Regen, können wir aber unmöglich in dieser Unterkunft bleiben.» Unser Team macht sich an die Arbeit: Wir beurteilen den Schaden und überlegen, welches Baumaterial für die Reparatur benötigt wird. Innert 24 Stunden ist das Material da und die Reparatur der Unterkunft kann beginnen. Schon bald können Amina und ihre Tochter, die bei ihrer Schwester vorübergehend Unterschlupf gefunden haben, wieder einziehen.

Amina in ihrer Unterkunft im Lager Kutupalong. Ein Team von Medair beurteilt die Schäden, die durch die heftigen Regenfälle verursacht wurden.

Nach der Bedarfsanalyse besucht das Team von Medair weitere Haushalte. Wir steigen schlammige Treppen hinauf und zwängen uns durch enge Hauseingänge. Eine der Familien, die wir treffen, ist die von Nurul*. Ein freiwilliger Helfer aus der Rohingya-Gemeinschaft hatte uns zuvor auf dessen Notlage aufmerksam gemacht: Der Familienvater ist blind, genau wie seine fünf Kinder. Nuruls Frau Yasmin* ist die Einzige, die sehen kann. «Diese Familie leidet noch viel stärker unter der Situation», berichtete uns der Ehrenamtliche. Wir setzen uns mit der Familie hin – und Yasmin erzählt ihre Geschichte: «Innert Minuten mussten wir aus unserem Zuhause flüchten. Ausser den Kleidern, die wir gerade trugen, konnten wir nichts mitnehmen. Die Zeit drängte. Tagelang versteckten wir uns in Dörfern in der Nähe der Grenze. Ich hatte keine Ahnung, wohin unser Weg führte. Ich wusste nur, dass wir schnellst möglichst weit weg mussten. Für mich war das purer Stress. Ich ging voran und trug die gesamte Verantwortung für meine Familie, weil sie selber nicht sehen können. Wir alle hatten solche Angst.» Nach ein paar Tagen erreichte die siebenköpfige Familie endlich Bangladesch, erschöpft und verzweifelt. Ihre einzige Hoffnung: Der Gedanke, so bald wie möglich wieder nach Hause zurückkehren zu können. Seither sind zwei Jahre vergangen. Noch immer ist ihr Leben bedroht – und eine Rückkehr in die Heimat vorerst nicht in Sicht. «Wir haben alles verloren», sagt Abul* traurig. Der Nachbar stattet der Familie regelmässig einen Besuch ab. «Zuhause besass ich ein eigenes Haus, Vieh und Ackerland. Nichts davon ist mir geblieben. Und schaut euch unsere Kinder an». Er zeigt auf eine Gruppe von Jugendlichen, die sich vor der Haustür versammelt haben. «Früher gingen sie zur Schule. Sie lernten für ihr Leben gern. Und heute? Heute haben sie gar keinen Zugang mehr zu Bildung». Ein paar Sekunden schweigt Abdul. Dann fügt er leise an: «Warum musste das ausgerechnet uns passieren?»

Dunkle Wolken ziehen über dem Flüchtlingslager Kutupalong auf. Sie erinnern daran, wie anfällig das Lager während der Monsunzeit ist.

Wir schweigen. Auf Abduls Frage gibt es keine einfache Antwort. Amina, Nurul, Yasmin und Abul sind mit ihrem Schicksal nicht allein: Rund eine Million Rohingya-Flüchtlinge harren derzeit in Bangladesch aus. Mit der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in ihre Heimat. Es ist, als hätte jemand auf den Pausenknopf gedrückt. Wann ihr altes Leben wieder weitergeht, ist völlig ungewiss. Die Monate verstreichen – und mit jedem Tag fällt es den Geflüchteten schwerer, ihre Hoffnung zu bewahren. Bis es so weit ist, müssen wir für die Rohingya da sein. Es ist unsere Aufgabe, notleidende Männer, Frauen und Kinder während dieser herausfordernden Zeit mit allen Mitteln zu unterstützen. Dass wir ihnen keine langfristige Perspektive bieten können, ist uns bewusst. Und eine robuste Unterkunft setzt ihrer prekären Situation kein Ende. Aber sie gibt ihnen einen sicheren Rückzugsort, wo sie sich erholen und endlich mal durchatmen können. Nurul, Yasmin und ihre Kinder haben wieder ein Dach über dem Kopf. Sie und viele weitere Familien finden heute in ihrer neuen oder sanierten Unterkunft Schutz vor der rauen Witterung. Und haben dadurch immerhin eine Sorge weniger.


* Die Namen wurden aus Sicherheitsgründen geändert.   Medair ist eine internationale humanitäre Hilfsorganisation. Familien, die von Naturkatastrophen, Konflikten und anderen Krisen betroffen sind, unterstützen wir mit Nothilfe und Wiederaufbau. Derzeit ist Medair in zehn Ländern aktiv. In Bangladesch arbeitet Medair eng mit World Concern zusammen. Die Inhalte dieses Artikels stammen von Medair-Mitarbeitenden in den Einsatzgebieten sowie am internationalen Hauptsitz. Die in diesem Artikel geäusserten Meinungen entsprechen ausschliesslich den Ansichten von Medair und nicht zwingend auch dem offiziellen Standpunkt anderer Hilfsorganisationen.

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