Geschichten

Ein zerschmetterter Traum

Die Ukrainerin Taisiia erzählt, wie ihr «Traum von einem Leben» durch eine Fliegerbombe zerschmettert worden ist. In ihrem Dorf unweit der russischen Grenze hilft Medair der betroffenen Bevölkerung durch die Verteilung von Brennholz.

Während unserer Reise nach Sumy, Ukraine, machten wir Halt in einem kleinen Dorf nahe der russischen Grenze. Eine grosse Anzahl der Gebäude hier waren zerstört worden, aber die Menschen waren inzwischen in ihre Häuser zurückgekehrt und versuchten, sie zu reparieren, um dort weiterhin leben zu können. So auch die 44-jährige alleinerziehende Mutter Taisiia, die wir an diesem Tag besuchen wollten.

Auf unserem Weg durch das Dorf war spürbar, dass der Frühling vor der Tür stand. Die Sonne schien, die Bäume blühten, das Gras hatte begonnen, sich grün zu färben, die Vögel zwitscherten – es war, als ob die Natur aus ihrem Winterschlaf erwachte. Wir trafen Taisiia ​​im Hof ​​ihres Hauses, das im vergangenen Jahr zerstört worden war.

«Ich weiss, dass Gott existiert, weil er uns gerettet hat. Wir haben das Haus verlassen, um meiner Mutter Essen zu bringen. Nur 15 Minuten später war mein Haus weg. Eine Fliegerbombe ist im Hof eingeschlagen», erzählt Taisiia.

«Als wir merkten, dass im Land etwas los war, bin ich als Erstes mit meinem 15-jährigen Sohn in den Laden gegangen, um die nötigsten Nahrungsmittel zu kaufen. Als wir zurück nach Hause kamen, beschlossen wir, meiner Mutter etwas zu essen zu bringen. Sie wohnt in der Nähe. Unterwegs sahen wir Panzer, also rannten wir schnell zum Haus meiner Mutter. Dort versteckten wir uns im Keller und hörten Explosionen. Mein erster Gedanke war die Angst, dass mein Haus beschädigt wurde. Ich weiss nicht, woher dieser Gedanke kam.»

Taisiia is sharing her story with Medair staff

Früher stand an dieser Stelle Taisiias Haus, heute kann sie nur noch Geschichten davon erzählen. Eine Fliegerbombe hat es dem Erdboden gleichgemacht.

Taisiia standen die Tränen in den Augen, aber sie fuhr fort: «Als der Beschuss aufhörte, gingen wir nach draussen. Ich sah, dass ich viele Nachrichten und Anrufe auf meinem Telefon erhalten hatte. Mein Nachbar rief an und sagte: ‚Taisiia, dein Haus ist weg.‘»

«Ich rannte nach Hause und als ich alles mit eigenen Augen sah, schrie ich nur, weil ich nicht weinen konnte. Ich war total erschüttert. Es ist nichts mehr da, wo mein Haus einmal gestanden hatte», sagte Taisiia.

Erst eine Woche vor der Bombardierung hatte Taisiia das Haus gekauft. Jahrelang hatten sie und ihr Sohn von einem solchen Zuhause geträumt. Um genug Geld für einen Hauskauf zu verdienen, war die Ukrainerin sogar für eine Weile zum Geldverdienen nach Deutschland gezogen, um dort eine ältere Dame zu pflegen. «Sobald wir das Haus gekauft hatten, fingen mein Sohn und ich sofort an, es in Ordnung zu bringen: Wir fegten, wischten die Böden und beschnitten die Bäume. Manchmal vergassen wir sogar das Essen, weil wir so begeistert von dem neuen Haus waren. Es war ein Traum von einem Leben», sagte Taisiia.

 

The woman is standing near the basement

Die Frau steht in der Nähe des Kellers

Sie betrat die Veranda – das Einzige, was von ihrem Haus noch übrig war. Dann begann sie, uns durch ihr Haus zu führen, als ob es existieren würde. Sie zeigte uns, wo sich die Küche, das Schlafzimmer und das Wohnzimmer befunden hatten, und erzählte uns von den Plänen, die nie verwirklicht wurden. Im Garten hatte sie einen Pavillon bauen und mehr Bäume pflanzen wollen. Stattdessen steht nur ein einziger blühender Apfelbaum in dem nun zerbombten Garten. So viele von Taisiias Träumen sind zerschmettert worden.

Inzwischen ist Taisiia mit ihrem Sohn bei ihrer Mutter eingezogen. Da die ältere Frau an wunden Füssen leidet und in einem alten Haus lebt, können ihre Tochter und ihr Enkel sie dadurch auch besser im Alltag unterstützen. Medair hat die Familie im vergangenen Winter mit Brennholz versorgt, damit sie sich während der kalten Jahreszeit bei eisigen Temperaturen warmhalten konnte.

Taisiia hat sich durch ihre zerschmetterten Träume nicht entmutigen lassen. Sie hat schon wieder neue Träume.

Taisiia show Medair`s team her household

Taisiia zeigt dem Medair-Team ihren Haushalt

«Jetzt träume ich von einem Haus und von Frieden, von nichts anderem. Ich möchte genau an dieser Stelle ein neues Haus bauen, weil mein Sohn und ich uns auf den ersten Blick in diesen Ort verliebt haben», sagte Taisiia.

Am Ende unseres Gesprächs erschien ein Lächeln auf dem Gesicht der Frau und Hoffnung leuchtete in ihren Augen. Sie umarmte zum Abschied jedes unserer Teammitglieder und lud uns ein, sie auf einen Kaffee zu besuchen, wenn ihr Haus wiederaufgebaut ist.

The floor of the house is the only one thing left

Der Boden des Hauses ist das Einzige, was noch übrig ist

 

 


Die Dienste von Medair in der Ukraine werden von PMU, der Glückskette (CdB), CEDAR, Mustard Seed und Tearfund NZ finanziert.

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

 

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