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CEO Blog: Wie geht humanitäre Hilfe für Afghanistan Weiter?

Die Ereignisse in Afghanistan haben Fragen zur humanitären Arbeit vor Ort aufgeworfen.

Wie können wir dort weiterhin arbeiten, wo doch viele Mitarbeitende evakuiert wurden? Wie können wir für die Sicherheit unserer Leute sorgen? Wenn wir mit den neuen Behörden zusammenarbeiten, bedeutet das gleichzeitig, sie gutzuheissen? Wie können wir sicher sein, dass Unterstützung nicht in falsche Hände gerät?

Seit dem Abzug der ausländischen Streitkräfte und dem Regierungswechsel, haben sich die Umstände in der Tat stark verändert und die Lage ist ungewiss. Für Medair sind Situation wie diese jedoch nicht neu.

Nach über 30 Jahren Arbeit unter immer wieder prekären Umständen wissen wir, wie man inmitten von Unruhen und Unsicherheit humanitäre Hilfe leistet. Unser Mandat verpflichtet uns dazu, denn gerade in solchen Situationen haben Menschen häufig keinen Zugang zu lebensrettenden Dienstleistungen.

Wie also können wir die Menschen erreichen, ohne unsere eigene Sicherheit oder Integrität zu gefährden?

In der Praxis besteht der einzige Weg darin, das Vertrauen und Kooperation aller Beteiligten zu gewinnen. Das bedeutet, dass wir mit allen Akteuren sprechen müssen, die den Zugang zu Notleidenden kontrollieren, seien es lokale Behörden oder bewaffnetes Personal an Kontrollpunkten, wo unsere Teams angehalten und befragt werden. Dies kann sanktionierte Gruppen beinhalten. Diese Art der Kooperation bedeutet nicht automatisch das Gutheissen oder die Legitimierung ihrer Präsenz.  Wir brauchen lediglich die Garantie für eine sichere Durchreise, um Menschen in Not erreichen zu können.

Wie also handhaben wir diese Verhandlungen? Wir sagen klar, wer wir sind und was unsere Aufgabe ist: Ohne Hintergedanken Menschen in Not zu helfen. Wir erklären, wir könnten dies nur tun, wenn wir sicher sind, nicht angegriffen, belästigt oder manipuliert zu werden. Wir zahlen keine Bestechungsgelder. Wir ergreifen niemals Partei und unterstützen weder eine Seite noch äussern wir Kritik. Mit diesem Ansatz folgen wir den humanitären Grundsätzen der Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Humanität und operativen Unabhängigkeit, als Teil des Verhaltenskodex des Roten Kreuzes und des CHS-Standards.

Man fragt sich vielleicht, ob solche idealistisch klingenden Grundsätze ausreichen, um die Sicherheit unserer Teams zu gewährleisten. Sollten wir uns nicht auf stärkere Massnahmen, wie bewaffnete Eskorten, verlassen? Die Sicherheit unserer Mitarbeitenden steht an erster Stelle, und wir gehen keine unnötigen Risiken ein. So paradox es klingen mag, aber unsere Sicherheit besteht gerade darin, dass wir keine Verbindung zu Militär oder Polizei unterhalten. Nach internationalem Recht und in der Praxis ist die Glaubwürdigkeit als neutraler Akteur der beste Schutz.

So lassen wir uns bei unseren Aktivitäten ausschliesslich von den Bedürfnissen der Notleidenden leiten. Wir handeln nicht im Namen anderer, einschliesslich der Regierungen von Geberländern. Wir bemühen uns um das Vertrauen aller Parteien. Dies erreichen wir, indem wir zu unserem Wort stehen und uns konsequent an Versprechen halten. Ohne Sicherheitsgarantien von Seiten der Verantwortlichen machen wir nicht weiter.

Wie also funktioniert das im Kontext von Afghanistan?

Bereits Jahrzehnte vor dem jüngsten Wechsel haben humanitäre Organisationen sich mit allen Parteien, eingeschlossen der Taliban, arrangiert. Sie haben sich um Zugang zu Notleidenden bemüht. Dabei haben sich die Organisationen auf gemeinsame Standards geeinigt, die Joint Operating Procedures genannt werden. Darin ist festgelegt, wie unabhängig davon, wer die Kontrolle hat, vorgegangen wird. Heute ist dies wichtiger denn je. Die Standards halten unter anderem fest, dass weder Behörden noch lokale Machthaber den Zugang von humanitären Hilfsorganisationen zu irgendeiner Gruppe einschränken dürfen. Sie dürfen die Verteilung der Hilfe nicht durch Manipulationen oder Zwang beeinflussen. Frauen müssen die Möglichkeit haben, Hilfe in einer kulturell sensiblen Art und Weise zu empfangen, und die Privatsphäre der Menschen, mit denen wir arbeiten, muss respektiert werden. Die humanitären Organisationen verpflichten sich ihrerseits zur Einhaltung der humanitären Prinzipien und in ihrer Arbeit transparent und verantwortungsbewusst vorzugehen.

Die Fortsetzung der Aktivitäten von Medair wird sorgfältig geprüft und vorbereitet, um ein sicheres Vorgehen zu gewährleisten. Wir implementieren Projekte direkt und sind, solange es die Sicherheitslage erlaubt, vor Ort präsent, um Projekte direkt zu überwachen. Alle unsere Mitarbeitenden und Zulieferer werden weiterhin vor der Einstellung oder Vertragsvergabe geprüft. So wird die Unabhängigkeit unserer Arbeit gewährleistet.

Am wichtigsten bei allem ist das Leid der afghanischen Bevölkerung, die es schwerer hat, denn je zuvor. Während auf internationalem Parkett heftig über die politische Lage in Afghanistan debattiert wird, ist die Hälfte der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen. Im Land herrscht Dürre, Lebensmittelpreise steigen und die Unterernährung nimmt zu. Infolge von Jahrzehnten an Konflikt und Vertreibung sind viele Menschen im Land verarmt, dazu kommen eine schwache Wirtschaftslage und Covid-19. Über den nahenden, rauen Winter werden ländliche Gemeinschaften von der Aussenwelt abgeschnitten. Die Lage ist so ernst, dass die Vereinten Nationen die Hilfe für Afghanistan aufgestockt und die Notlage zu einer globalen Priorität erklärt haben.

25 Jahre nach Beginn unserer Arbeit in Afghanistan ist der Bedarf an lebensrettenden Massnahmen grösser denn je. Fernab von Schlagzeilen geht die Arbeit von Medair weiter. Wir setzen alles daran, abgelegene Gemeinschaften darin zu unterstützen, Katastrophen vorzubeugen und ein menschenwürdiges Leben zu führen. Was auch immer die Zukunft bringt, wir lassen Menschen in Afghanistan nicht im Stich.

 

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