Geschichten

CEO-Blog: Ein Jahr wie dieses

Ein Jahr wie dieses haben wir bei Medair noch nie zuvor erlebt. Die Situation, dass wir während einer globalen Pandemie humanitäre Hilfsmassnahmen durchführen mussten, ist völlig neu.

Wir haben weitreichende Erfahrungen mit Einsätzen und der Umsetzung humanitärer Programme inmitten von Virusepidemien. Beispielsweise reagierten wir auf Ebola-Epidemien sowohl in Sierra Leone als auch in der DR Kongo und haben Hunderttausende von Kindern während Masernausbrüchen im Südsudan geimpft. In Zeiten von COVID-19 jedoch, ist vieles anders.

Als die Pandemie ausgerufen wurde, standen wir vor ganz neuen Herausforderungen. Grenzen wurden geschlossen, sowohl auf regionaler als auch auf internationaler Ebene, was manchmal bedeutete, dass unsere Mitarbeitenden nicht nach Hause zu ihren Familien gelangen und wir keine Mitarbeitenden in die Einsatzgebiete schicken konnten. Uns stellten sich ausserordentliche Herausforderungen bei der Beschaffung und Lieferung von Artikeln wie persönlicher Schutzausrüstung und Seife an die von uns unterstützten Gemeinschaften. Wir mussten unsere Programme anpassen, um die Verbreitung von COVID-19 zu verhindern. Viele unserer Mitarbeitenden mussten von zu Hause aus arbeiten und kreative Wege finden, um Teams zu managen und Programme umzusetzen, während sie gleichzeitig Kinderbetreuung und Homeschooling unter einen Hut bringen mussten.

In vielen Ländern entwickelten sich die Krisen, auf die wir reagierten, zu Krisen innerhalb schon bestehender Krisen. Das war ein echter Schock. Aber das Gute an solchen Ereignissen ist, dass sie uns zwingen, uns anzupassen, spontan und flexibel zu denken und eine Standortbestimmung vorzunehmen.

Arbeitsweisen anpassen

Wir verfolgen in der humanitären Hilfe einen menschenzentrierten Ansatz, der den einzelnen Menschen – und nicht irgendwelche Zahlen oder Statistiken – in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellt. Als die Lockdowns einsetzten, machten wir uns Sorgen, dass wir die Familien, die wir unterstützen, nicht mehr mit der gleichen, menschenbezogenen Arbeitsweise erreichen könnten. Durch die Abstandsregeln und die eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten fürchteten wir, dass wir weniger mit den Familien verbunden sein würden.

Deshalb passten wir unsere Arbeitsweisen an. In Jordanien und im Südsudan begannen wir mit der Einrichtung von telefonischen Hotlines zur Unterstützung der psychischen Gesundheit und zur Betreuung von Menschen, die mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatten oder Angehörige mit COVID-19 pflegten, indem wir ihnen ein offenes Ohr und Beratung anboten. Wir erlebten, dass diese persönlichen Kontakte inmitten einer globalen Gesundheitskrise, in der die Ängste der Menschen besonders gross sind und sie sich Sorgen machen, wie sie ihre Angehörigen versorgen sollen, so viel mehr Bedeutung haben als in normalen Zeiten. Auch wenn wir nicht persönlich vor Ort sein konnten, hat unser menschenzentrierter Ansatz einen grossen Unterschied gemacht.

Wir passten unsere Programme an, um auch unerwartete Herausforderungen zu meistern. In Afghanistan drangen Gerüchte über COVID-19 langsam zu unseren Teams vor: Zitronensaft zu trinken töte das Virus ab. Das Virus verursache den sofortigen Tod. Das Einatmen des Rauchs von brennenden Wurzeln könne eine Infektion durch COVID-19 heilen. Wir begannen sofort damit, Seife an abgelegene Gemeinschaften zu verteilen und informierten die Familien über richtiges Händewaschen, Abstandsregeln und klare Informationen darüber, wie die Verbreitung des Virus funktioniert. Unser Ziel ist es, sowohl die Verbreitung von COVID-19 als auch falsche Gerüchte darüber zu verhindern.

Spontane und flexible Denkweise

Als klar wurde, dass die Pandemie nicht so schnell vorbei sein würde, mussten wir uns Gedanken darüber machen, wie wir unsere Nothilfeprogramme fortsetzen und gleichzeitig die Ausbreitung des Virus stoppen könnten.

 

Am 4. August 2020 wurden wir zum ersten Mal auf die Probe gestellt, als eine gewaltige Explosion das Zentrum von Beirut erschütterte. Unser Team im Bekaa-Tal wurde sofort mobilisiert und fuhr mit Gesichtsmasken und Handdesinfektionsmittel nach Beirut, um Bedürfnisanalysen vorzunehmen. Dabei hielten die Mitarbeitenden bei ihrem Einsatz die Abstandsregeln zu den betroffenen Familien und untereinander ein, trugen Gesichtsmasken und desinfizierten sich die Hände. Unser Nothilfeeinsatz umfasste auch die Schulung von Mitarbeitenden und freiwilligen Helfern über die Verbreitung von und Prävention vor COVID-19. Zudem verteilten wir Hygienesets, die unter anderem Seife enthielten, um die Verbreitung des Virus zu verhindern.

Kürzlich erst forderte uns die Krise im äthiopischen Tigray besonders heraus, wo Kampfhandlungen Tausende von Flüchtlingen aus ihren Häusern und über die Grenze in den Sudan vertrieben. Unsere umfangreiche Erfahrung in Kriseneinsätzen dieser Art, die wir beispielsweise im Irak, im Südsudan, in der DR Kongo und in Bangladesch gesammelt hatten, ermöglichte es uns, uns rasch auf diese neue Krise anzupassen, welche sich inmitten einer Pandemie vollzieht. Unser Team im Sudan hat in bewährter Weise auf die Krise vor Ort reagiert, indem es zuerst den Bedarf ermittelte und anschliessend Vorbereitungen für entsprechende Hilfsmassnahmen einleitete. Unser Engagement ist dasselbe geblieben: COVID-19 hin oder her, wir werden weiterhin auf humanitäre Notlagen reagieren, wann und wo immer wir können.

 

Standortbestimmung

Schliesslich hat uns die Pandemie veranlasst, eine Bestandesaufnahme dessen zu machen, was wir als Organisation an Assets vorweisen können. Wie sich zeigt, ist dies eine ganze Menge:

  • Wir verfügen über enge Beziehungen zu den Gemeinschaften, mit denen wir zusammenarbeiten. Diese engen Beziehungen haben es uns ermöglicht, unsere Programme auch im heutigen Umfeld fortzusetzen, ohne das Vertrauen der Menschen zu verlieren.
  • Wir verfügen über vielseitige und engagierte Teams auf der ganzen Welt, deren Wunsch, von Konflikten oder Naturkatastrophen betroffenen Familien zu helfen, durch die grösste Gesundheitskrise unserer Zeit nicht beeinträchtigt wurde.
  • Wir konnten auf Mitarbeitende zählen, die bei jedem einzelnen Zoom- oder Microsoft Teams Meeting – oft trotz Verbindungsstörungen und neuer, manchmal verwirrender Home-Office-Arbeitsbedingungen – anwesend und entschlossen waren, weiterhin gefährdete Gemeinschaften zu unterstützen.
  • Vorgesetzte sprangen spontan ein, um vorübergehend vakante Positionen in Teams zu besetzen, wenn keine neuen Mitarbeitende für die geforderten Aufgaben rekrutiert werden konnten.
  • Und das Wichtigste war und ist, dass wir füreinander da sind. Trotz aller Herausforderungen, mit denen wir in diesem Jahr konfrontiert waren, haben wir uns immer wieder gegenseitig zum Lachen gebracht und uns gegenseitig ermutigt, wenn die Probleme zu erdrückend schienen.
  • Vor allem aber setzten wir unseren Auftrag unbeirrt fort, von Konflikten und Naturkatastrophen betroffene Familien in einigen der abgelegensten und am stärksten gefährdeten Gemeinschaften der Welt zu unterstützen.

Wir gehen weiterhin die Extrameile, denn jedes Leben zählt! Besonders inmitten einer globalen Pandemie.

Die Inhalte dieses Artikels stammen von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten sowie am internationalen Hauptsitz. Die Meinungen entsprechen ausschliesslich den Ansichten von Medair und damit nicht unbedingt auch dem offiziellen Standpunkt anderer Hilfsorganisationen.

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