Geschichten

Aus dem Schatten ans Licht

Ein Jahr nach dem Umsturz in Afghanistan

Am 14. August 2021 flog Medairs Programmdirektorin Anna Coffin nach einem ihrer regelmässigen Besuche des Länderprogramms in Afghanistan aus Kabul ab. Sie war unterwegs gewesen in abgelegene und unwegsame Gebiete, wo das Team von Medair Menschen unterstützt, die unter einer anhaltenden Dürre und jahrzehntelangen Konflikten leiden und ihre Familien kaum ernähren können. Das Land befand sich im Umbruch und es war ungewiss, ob die Hilfsorganisationen weiterarbeiten konnten, obwohl humanitäre Hilfe mehr denn je gebraucht wurde.

Afghanistan wird oft genannt, wenn über sogenannte «vergessene» Krisen und zu wenig beachtete humanitäre Notlagen gesprochen wird. Medair ist seit 1996 mit einem Team aus nationalen und internationalen Mitarbeitenden im Land tätig. Dazu gehört die Verbesserung des Zugangs für Gemeinschaften zu sauberem Wasser, Krankheitsvorsorge insbesondere für Kinder, sowie die Unterstützung von Gesundheitseinrichtungen und die Bekämpfung von Unterernährung. Die Arbeit in Afghanistan war von jeher eine Herausforderung, doch Anna und das gesamte Team von Medair sah auch immer ein Land von atemberaubender landschaftlicher Schönheit und voller herzlicher Gastfreundschaft.

Im August 2020 prägten Nachrichten über Afghanistan die internationalen Schlagzeilen. Am 15. des Monats, einem Sonntag, vermeldeten Medien, dass der Machtwechsel im Land vollzogen sei. In den Tagen darauf arbeitete das Team von Medair vor Ort vor allem daran, die Kommunikation zu den Gemeinschaften, in denen aktive Projekte laufen, offen zu halten. Als Hilfsorganisation sind wir auf die Akzeptanz und das Vertrauen derjenigen angewiesen, die den Zugang zu den Menschen in Not kontrollieren. Wie der Geschäftsführer von Medair, David Verboom, in seinem Online-Blog erklärt, gehören dazu manchmal auch Gespräche mit auf internationaler Ebene sanktionierten Gruppierungen, denn unsere Arbeit orientiert sich ausschliesslich an dem Masse der Not und humanitären Grundsätzen.

Das vergangene Jahr hat zweifellos alle vor grosse Herausforderungen gestellt. Trotzdem konnte Medair die Arbeit fortsetzen und Hilfsmassnahmen sogar noch ausweiten, denn die Not im Land hat dramatisch zugenommen.

Mahmood und seine Familie in Afghanistan haben nun Zugang zu sauberem Trinkwasser.

Mahmood und seine Nachbarschaft tranken Wasser aus einem Bach, in dem auch Tiere ihren Durst löschten. Häufig waren die Kinder krank, obwohl Gesundheitsbeauftragte der Gemeinschaft geraten hatten, das Wasser nicht zu trinken. Es gab einfach keine Alternative. Seit Medair eine sichere Wasserstelle mit Wasser aus einer natürlichen Quelle errichtet hat, ist sein Sohn nicht mehr krank, erzählte uns Mahmoud.

Seit August 2021 haben wir 117 Trinkwasserzapfstellen angelegt, eine darunter ist solarbetrieben.

«Dieser Moment verändert das Leben für die ganze Gemeinde», sagte Sardar, ein 70-jähriger Bauer, der in einem der Gebiete lebt, die von der neuen Wasserstelle versorgt werden. «Worte können nicht genug sagen, wie dankbar wir sind.

Seitdem Sofeya regelmässig das auf Erdnüssen basierte Nahrungsergänzungsmittel Plumpy’Nut zu sich nimmt, hat sich ihr Gesundheitszustand stetig verbessert.

Wir danken Euch und beten für Euch, weil Ihr uns und den kommenden Generationen Zugang zu sauberem Trinkwasser geschenkt habt.»

Sadia brachte ihr jüngstes Kind, die einjährige Sofeya, in eines der Ernährungszentren von Medair. «Unser Zuhause wurde durch den Konflikt zerstört und wir wurden mehrfach vertrieben», erzählte sie. «Wir haben unser gesamtes Hab und Gut und unser Vieh verloren.»

«Als ich meine Tochter in das Zentrum hier brachte, bekamen wir von Medair therapeutische Nahrung», erinnert sich Sadia. «Ohne das hätte sie sich sicher nicht erholt. Wir haben bereits ein Kind verloren, weil so etwas früher nicht gab. Hier gibt es viele Familien wie unsere, die ihre Kinder nicht ausreichend ernähren können. Ohne die Hilfe von Medair wären bereits viele Kinder an Unterernährung gestorben.»

Seit August 2021 betreibt Medair 29 mobile Ernährungszentren. Stetig kommen neue Teams hinzu, so dass wir bald 45 Standorte betreuen werden. In nur acht Monaten konnten wir fast 40 000 Frauen und Kinder auf Unterernährung screenen.

Die Haushaltseinkommen in Afghanistan sinken drastisch und die Preise steigen weiter an. Nach Angaben des Welternährungsprogramms sind die Kosten für einen Korb mit Grundnahrungsmitteln im Juni 2022 um 54 Prozent höher als zum gleichen Zeitpunkt im Jahr 2021. Allein im Juni stiegen die Preise um 6 Prozent.

Khalida ist alleinerziehende Mutter von vier Kindern unter 15 Jahre. Sie befand sich in einer aussichtslosen Lage, und auch ihre Familie konnte ihr nicht helfen. Khalida musste eine schwere Entscheidung treffen und ihren 10-jährigen Sohn von der Schule nehmen, damit er eine Stelle als Schafhirte annehmen konnte. Ihr monatliches Einkommen von umgerechnet rund 15 Franken reichte bei weitem nicht aus, um alles Notwendige zu bezahlen. Khalida erzählte uns, dass die Familie oft mit leerem Magen zu Bett ging.

 

«Ich habe alles versucht, um eine Arbeit zu finden, damit ich meine Familie ernähren kann», erinnert sich Khalida. «Trotz aller Bemühungen gab es für mich keine Möglichkeit. Und da die meisten Menschen im Land, einschliesslich meiner Verwandten, auch schwere Zeiten durchmachen, konnte mir niemand helfen.»

 

Aufgrund des dringenden Bedarfs in der Region haben die Menschen in der Gemeinde, in der Khalida lebt, Bargeldhilfe von Medair erhalten. Für eine begrenzte Zeit erhielt sie eine monatliche Zuwendung von umgerechnet rund 87 Franken.

 

«Endlich konnte ich die dringendsten Bedürfnisse meiner Familie befriedigen. Ich freudig auf den Markt und kaufte genug Lebensmittel, um meine Familie die nächsten Wochen zu ernähren. Ihr seid wie Engel, die uns in diesen schweren Zeiten vom Himmel geschickt wurden, um das Leben meiner Kinder und mein eigenes zu retten.»

 

Seit August 2021 haben mehr als 56 000 Menschen Bargeld erhalten, um ihren Grundbedarf an Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und Medikamenten zu decken.

 

 

 

Ben Reynolds, Leiter des Landesprogramms Afghanistan, fasst das vergangene Jahr zusammen.

«Ein Jahr nach dem Wechsel sind wir voll damit beschäftigt, unsere Hilfsleistungen auszuweiten. An allen drei Stützpunkten wurden die Programme aufgestockt, um sich dem ständig steigenden Bedarf anzupassen und Bevölkerungsgruppen zu erreichen, die seit über 20 Jahren keine Hilfe mehr erhalten haben.»

 

Seit August 2021 bieten wir den Menschen weiterhin Gesundheitsdienste an, einschliesslich medizinischer Behandlung, gesundheitlicher Unterstützung für schwangere Frauen und einer Basisbetreuung im psychosozialen Bereich. In nur acht Monaten haben fast 12 000 Menschen die von Medair unterstützten Gesundheitseinrichtungen besucht.

 

Natürlich bleiben die Herausforderungen bei der Bereitstellung humanitärer Hilfe in Afghanistan bestehen, und besonders alarmierend ist das Ausmass des Hungers. Nach Angaben des Welternährungsprogramms sind 92 Prozent der Menschen nicht ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt – fast das gesamte Land geht abends hungrig zu Bett. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung behilft sich mit drastischen Massnahmen: Sie verkauft Besitztümer oder Vieh, die Essensportionen bekommen die Kinder, während die Erwachsenen hungern, oder es werden hohe Schulden angehäuft. Sie können unsere Arbeit in Afghanistan unterstützen, indem Sie hier spenden.

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