Geschichten

An die Mutigen

Dieser Bericht ist den Menschen gewidmet, die jeden Tag ihr Leben riskieren, um anderen zu helfen und deren Lebensqualität zu verbessern.

Die Teams von Medair haben in der Ukraine bereichsübergreifende (Unterkunft und Gesundheit betreffende) Bedarfsanalysen in Zentren für medizinische Grundversorgung und Minikliniken durchgeführt. Diese Gesundheitseinrichtungen werden auch als «Feldscher-Punkte» bezeichnet und sie bieten betroffenen Gemeinschaften und Menschen in Not Zugang zu hochwertiger Gesundheitsversorgung. Weil in diesen abgelegenen Gegenden und Dörfern hauptsächlich ältere Menschen leben, sind die Punkte zusätzlich von entscheidender Bedeutung. Während meines Besuches in der Ukraine hatte ich die Möglichkeit, gemeinsam mit meinen dortigen Medair-Kollegen ein paar dieser Feldscher-Punkte zu besichtigen und dabei einige ausserordentlich mutige Menschen kennenzulernen.

 

Es war acht Uhr morgens, als wir im Medair-Büro in Kiew ankamen. Die für die Bereiche Unterkunft und Gesundheit zuständigen Teams machten sich bereit für die Abfahrt nach Makariv in der Oblast Kiew. Marakiv sollte als potenzielles neues Interventionsgebiet evaluiert werden. Daher waren alle ganz gespannt auf die Fahrt dorthin. Zwei separate Autos sollten uns in die Region bringen. In einem Auto fuhr das Gesundheitsteam, im anderen sassen zwei Personen aus dem Unterkunftsteam. Sviat, unser neuer Ansprechpartner für Kommunikation in der Ukraine, und ich kamen im Wagen des Unterkunftsteams unter. Als wir das Auto beluden, bemerkte ich einen kalten Wind, der aus westlicher Richtung wehte. Es würde ein langer Reisetag werden. Bis nach Makariv war es nicht sehr weit, aber mir war bewusst, dass wir durch einige sehr stark vom Konflikt betroffene Gebiete fahren würden. Wir würden ungefähr zwei Stunden brauchen, was mir etwas Zeit liess, während der Fahrt meine Kamera vorzubereiten und ein paar Notizen zu machen.

 

Der unbesungene Held von Irpin

Nach rund einer Stunde Fahrt – wir befanden uns ca. 50 Kilometer nördlich vom Zentrum von Kiew – wollte ich das Gespräch mit Tymur und Danylo, unseren Kollegen aus dem Unterkunftsteam, wieder aufnehmen. Die beiden sind Unterkunftsassistenten oder, wie das Team es hier nennt, Infrastruktur-Assistenten in unserem für den Bereich Unterkunft zuständigen Team. Wir begannen, uns über den Evaluierungsprozess zu unterhalten und über kürzlich von ihnen abgeschlossene Unterkunftsmassnahmen in Irpin.

Humanitäre Helfende fahren auf einer Autobahn in der Ukraine.

Tymur und Danylo, Infrastrukturassistenten bei Medair, während der Fahrt auf der Autobahn von Kiew nach Makariv. ©Medair/Abdul Dennaoui

Tymur schaute mich durch den Rückspiegel an und sagte: «Möchtest du eine traurige Geschichte hören?» – Da ich neugierig war, antwortete ich mit einem klaren Ja. Tymur holte tief Luft und begann zu erzählen: «Eines Tages führten Danylo und ich Evaluierungen in Irpin durch. Dabei trafen wir eine ältere, rund siebzigjährige Frau. Sie sah sehr müde und einsam aus. Wir begutachteten ihr Haus. Durch den Konflikt hatte es erheblichen Schaden erlitten. Wir fragten sie, ob sie zum Zeitpunkt der Explosion in ihrem Haus gewesen sei. Sie sah uns an und fing sofort an zu schluchzen. Wir trösteten sie eine Weile und beruhigten sie. Anschliessend erzählte sie uns ihre Geschichte. Als der Konflikt Irpin erreichte, hatte ihr Mann Angst um ihr Leben. Er wollte sie unbedingt in Sicherheit bringen. Die Flucht war sehr gefährlich, da die Luftangriffe starteten, als sie ihr Haus verliessen. Nach einigen Schwierigkeiten konnte ihr Mann sie bei Bekannten in der Nähe in Sicherheit bringen. Er weigerte sich jedoch, bei ihr zu bleiben, denn er wollte zum Haus zurückkehren, um es zu beschützen. Danylo und ich waren neugierig und fragten sie, warum ihr Mann unbedingt zurückgehen wollte. Wie sich herausstellte, hatte ihr Mann das Haus mit eigenen Händen gebaut, sodass er es unter keinen Umständen aufgeben wollte. In dieser Nacht verabschiedeten die beiden sich voneinander. Die Frau wollte zu ihrem Mann zurückkehren, sobald sich die Lage entspannt hatte. Doch die Tage vergingen und der Konflikt verschärfte sich. Als sich die Lage so weit beruhigt hatte, dass sie sicher nach Hause zurückkehren konnte, machte sie sich auf den Weg, doch leider nur, um zu erfahren, dass ihr Mann ums Leben gekommen war», erzählte Tymur mit traurigem Gesicht. «Sie sagte, ihr Mann sei ein Held und sie sei traurig, weil niemand jemals davon erfahren würde», fuhr er fort. Es herrschte eine betrübte Stille im Auto, nachdem Tymur uns diese Geschichte erzählt hatte.

 

Während der restlichen Fahrt konnte ich nicht aufhören, darüber nachzudenken. Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie sich die Landschaft langsam veränderte. Wir liessen die Autobahn hinter uns und fuhren geradeaus eine Schotterstrasse hinauf, die uns schliesslich zum Dorf führte. Es war eine abgelegene Gegend – wir kamen uns vor wie am Ende der Welt. Als wir uns dem Dorf näherten, bemerkte ich nur kleine traditionelle Backsteinhäuser, von denen einige stärker beschädigt waren als andere. Einige, an denen wir vorbeifuhren, waren völlig verfallen. Ich bemerkte auch, dass die Dächer beschädigt waren und grosse Teile der Asbestplatten fehlten, die in der Ukraine traditionell für Dächer verwendet werden. Ich ging davon aus, dass die Schäden durch die Detonationswellen verursacht worden waren, die, wie ich gehört hatte, unglaublich intensiv sein sollen. Der Anblick, der sich uns bot, war düster.

 

Eine Strasse in Sytnyky, Marakiv in der ukrainischen Oblast Kiew.

Eine Strasse in Sytnyky, Makariv, Oblast Kiew, gereiht mit traditionellen Backsteinhäuser, welche grösstenteils durch den Konflikt beschädigt worden sind. ©Medair/Abdul Dennaoui

Kurz darauf erreichten wir das Zentrum für medizinische Grundversorgung in Marakiv. Von aussen sah es nicht aus wie ein Gesundheitszentrum. Das wunderte mich jedoch nicht, denn auch die Gesundheitszentren im Libanon sehen meist von aussen nicht danach aus. Lediglich die kleinen Ambulanzwagen, die direkt vor dem Zentrum standen, gaben Aufschluss über den Zweck des Gebäudes.

Humanitäre Helfende stehen vor einer Gesundheitseinrichtung in der Ukraine.

Die Unterkunftsassistenten Tymur und Danylo stehen vor dem Gesundheitszentrum in Marakiv in der Oblast Kiew. ©Medair/Abdul Dennaoui

Die Mitarbeitenden von Medair trafen Solomon, den Leiter, und Olena, die leitende Krankenschwester des Zentrums für medizinische Grundversorgung in Makariv. Dieses Zentrum ist möglicherweise das wichtigste und grösste Gesundheitszentrum in der Gegend. Während des Treffens erklärten Olena und Solomon unserem Unterkunfts- und Gesundheitsteam, dass dieses Zentrum Unterstützung von mehreren anderen in der Region tätigen humanitären Organisationen erhalte. Ihnen seien aber drei andere Minikliniken oder Feldscher-Punkte in der Nähe von Makariv bekannt, die Hilfe benötigten. Als das Treffen beendet war, boten Olena und Solomon uns an, uns zu den drei Standorten im Raum Makariv – Sytnyky, Zabnyannia und Andriivk – zu bringen, damit wir dort unsere Evaluierungen durchführen konnten. Solomon erklärte, dass die Minikliniken durch den Konflikt immense Infrastrukturschäden erlitten hätten. Auch die für den Winterbetrieb unerlässlichen Heizungssysteme in den Kliniken seien nicht mehr funktionsfähig.

Eine medizinische Assistentin steht vor einer Klinik in der Ukraine.

Maria, eine auch als Feldscherin bezeichnete Sanitäterin, steht vor der Miniklinik, auch Feldscher-Punkt genannt, in Sytnyky, Marakiv in der Oblast Kiew. ©Medair/Abdul Dennaoui

Die Notfallsanitäterin

Ganz oben auf der Liste stand der Feldscher-Punkt in Sytnyky. Als wir ankamen, wurden wir herzlich von Maria begrüsst. Maria ist 37 Jahre alt und das, was die Leute in der Gegend als Feldscherin bezeichnen: eine medizinische Assistentin. Sie begrüsste uns herzlich und hiess uns in der Klinik willkommen. Unser Unterkunfts- und Gesundheitsteam begann sofort mit der Evaluierung. Ich wollte gerne wissen, was für Schäden die Einrichtung erlitten hatte. Daher nahm ich Maria zur Seite und bat Sviat, ihr meine Fragen zu übersetzen. Maria erzählte uns Folgendes: «Wie Sie sehen können, ist die Gegend hier sehr abgelegen. Wir sind recht weit von den umliegenden Dörfern entfernt. Viele Menschen aus diesem Dorf benötigen eine gute medizinische Versorgung und sind auf die Unterstützung der Klinik angewiesen. Die meisten Menschen in dieser Gegend sind im fortgeschrittenen Alter oder leiden an einer Behinderung und haben im Notfall keinen Zugang zu grösseren Einrichtungen. Deshalb bin ich hier. Als der Konflikt begann, war mir klar, dass ich bleiben würde, weil die Menschen mich hier brauchen. Sie sind auf meine Unterstützung angewiesen. Zu Beginn des Konflikts kamen viele Menschen zu mir, die eine medizinische Notfallversorgung benötigten. Es war eine sehr intensive Zeit. Die Zahl der Menschen, die medizinische Hilfe benötigten, war enorm und für eine einzige Person nicht zu bewältigen. Zum Glück gab es Leute im Dorf, die freiwillig zur Klinik kamen, um mich zu unterstützen. Wir haben durchgehalten und getan, was nötig war», sagte sie mit Hoffnung in ihren Augen. Maria erklärte weiter, dass das Fundament der Einrichtung grosse Infrastrukturschäden erlitten habe. Verursacht wurden die Schäden durch die Detonationswellen nach Explosionen in der Nähe der Einrichtung. Sie sagte, das gesamte Gebäude könne jederzeit in sich zusammenbrechen. Später erfuhr ich von Solomon, dass Maria viele Leben gerettet und eine Zeit lang so gut wie in der Klinik gelebt habe.

Eine Krankenschwester in einem Gesundheitszentrum.

Halyna arbeitet seit 52 Jahren als Krankenschwester in der Klinik in Zabnyannia, Marakiv in der Oblast Kiew. Hier steht sie in der Ambulanz dieses Feldscher-Punktes. ©Medair/Abdul Dennaoui

Medizinische Realität

Wir verliessen Sytnyky und machten uns auf zum nächsten Ort auf der Liste, dem Feldscher-Punkt in Zabnyannia. Es war eine rund 30-minütige Fahrt von Sytnyky über Nebenstrassen durch endlose Felder und dunkle Waldgebiete, so weit das Auge reicht. Als wir vor Ort ankamen, stellten wir das Auto neben einem Haus ab, das erheblich beschädigt worden war. Es war ein Backsteinhaus – wie die meisten, die ich hier in der Ukraine gesehen habe. Es hatte eine blaue Tür und die Fenster waren von innen mit Holzbrettern beschlagen. Die Fenstergläser waren komplett zerbrochen. Als ich um das Haus herumging, bemerkte ich, dass das Dach durch einen umgestürzten Baum beschädigt worden war. Das Team begutachtete bereits die Aussenbereiche des Feldscher-Punktes, als ich zu ihnen aufschloss. Es war gespenstisch still – so still, dass man den Wind wehen hören konnte. Das Erste, was wir sahen, war die Ambulanz, also die Station für die Versorgung von Notfällen. Nicht alle Feldscher-Punkte verfügen über eine solche. Sie war recht klein und befand sich direkt vor dem Gebäude. Das Betongebäude dahinter war der Feldscher-Punkt. Dort traf ich Halyna. Seit über einem halben Jahrhundert ist sie schon dort tätig und leistet seit Beginn des Konflikts medizinische Hilfe. Im Gespräch erzählte Halyna: «Ich arbeite seit 52 Jahren als Krankenschwester hier in dieser Klinik. An dem Tag, an dem der Konflikt begann, betete ich für Sicherheit für uns alle. Die Nächte kamen uns unendlich lang vor. Tag für Tag gab es Luftangriffe. Ich machte mir weniger Sorgen um mein eigenes Leben als darum, andere zu retten. Es kamen Menschen, die Notfallversorgung benötigten – jeder war ein Notfall und wir mussten uns so schnell wie möglich um sie kümmern. Während wir eine Person behandelten, hörten wir in der Ferne fürchterliche Geräusche. Die Detonationswellen waren schrecklich laut. Eines Nachts hörten wir, wie die Luftangriffe immer näher kamen, bis die Bomben schliesslich ganz in unserer Nähe einschlugen. Ich kann Ihnen das Gefühl nicht beschreiben. Es war fürchterlich. Der Druck des Schalls war so stark, dass alle Fenster zerbarsten und wir hörten, wie ein Teil des Daches einstürzte. Wir machen uns jetzt Sorgen wegen des Winters, weil es hier keine Heizung gibt und wir nicht wissen, wie wir die Menschen, die wir behandeln, warm halten sollen. Eine Schliessung der Einrichtung ist sicherlich keine Option.»

Gerade als wir das Gespräch mit Halyna beendet hatten und uns auf den Weg ins Freie machten, geschah das Unerwartete: Auf meinem Handy ertönte Sirenengeheul als Zeichen, dass wir uns besser Schutz in einem Bunker suchen sollten. Leider kannten wir die Gegend zu wenig, als dass wir gewusst hätten, wo wir einen Bunker finden würden, um unser Sicherheitsprotokoll einzuhalten. Wir rannten zu den Autos und machten uns auf den Weg. Nach rund zehnminütiger Fahrt bemerkten wir eine öffentliche Schule. Da Schulen normalerweise über Bunker verfügen, beschlossen wir, sie uns genauer anzusehen, und hielten an. Als ich aus dem Auto stieg, sah ich eine Frau, die uns anlächelte und uns schnell hereinwinkte. Es gab also einen Bunker und wir durften hinein.

Ein humanitäres Team sitzt in einem unterirdischen Bunker in der Ukraine.

Während eines Sirenenalarms findet das Team von Medair Zuflucht in dem Bunker einer öffentlichen Schule in Zabnyannia, Marakiv in der Oblast Kiew. ©Medair/Abdul Dennaoui

Wir hatten Glück, so schnell einen Bunker zu finden. Ich werde der Direktorin der Schule für immer dankbar sein, dass sie uns hereinliess, obwohl die Kapazität des Bunkers voll ausgeschöpft war. Er war voller Kinder und Lehrpersonen. Die Lehrpersonen brachten die Kinder dazu, Lieder zu singen, um sie von der Realität draussen abzulenken. Sie spielten Lieder über einen Laptop und sangen mit den Kindern auf Ukrainisch – der Moment war einfach surreal. Ich holte tief Luft und legte meine Kamera zur Seite. Wir verbrachten die nächsten vier Stunden im Bunker. Vier Stunden später heulten die Sirenen immer noch. Ich musste immer wieder an Maria und Halyna denken, die ich gerade kennengelernt hatte, und an den Mann der Frau, von der Tymur erzählt hatte.

 

Ich war tief in Gedanken versunken, als unser Sicherheitsverantwortlicher sagte, dass wir weiter müssten, und mich in die Realität zurückholte. Die Entscheidung zur Weiterfahrt lag auf der Hand, denn es war bereits spät am Nachmittag und sehr dunkel draussen. Allerdings waren die Sirenen immer noch aktiv, sodass alles passieren konnte. Doch glücklicherweise gelang es uns nach einer langen, an Horrorfilme erinnernden Fahrt über dunkle Nebenstrassen, sicher nach Kiew zurückzukehren.

 

Die Welt ist voll mutiger Menschen, die jeden Tag ihr Leben riskieren, um ihre Liebsten zu retten und den Vulnerabelsten in den abgelegensten Gegenden zu helfen. Sie sind an vorderster Front bei Notfällen im Einsatz mit dem Ziel, Leben zu retten. Dieser Bericht ist mutigen Menschen wie Maria und Halyna gewidmet, die bereit sind, ihr Leben auf Spiel zu setzen, um anderen zu helfen.

 

Eine medizinische Assistentin steht vor einer Klinik.

Maria, eine auch Feldscherin genannte medizinische Assistentin, steht vor der Miniklinik in Sytnyky, Marakiv, in der Oblast Kiew. ©Medair/Abdul Dennaoui

 


Die Dienste von Medair in der Ukraine werden von PMU, der Glückskette, Cedar und The New Humanitarian finanziert.

 

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

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