Geschichten

Verlorenes Zuhause

Betroffene Bevölkerungsgruppen, die aufgrund des Konflikts in der Ukraine aus ihrer Heimat fliehen mussten, werden durch die Sanierung von Unterkünften in Sammelzentren unterstützt.

Der Konflikt in der Ukraine hat Millionen von Menschen dazu gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen und anderswo Zuflucht zu suchen. Die Entscheidung, ihre Heimatstadt zu verlassen, fiel keinem einzigen von ihnen leicht. Doch der Wunsch, am Leben zu bleiben, war stärker. So liessen sie alles zurück, was sie sich über Jahre aufgebaut hatten, und flohen ins Ungewisse. Die meisten von ihnen träumen davon, nach Hause zurückzukehren. Leider ist das fast unmöglich. Viele Städte sind immer noch besetzt, und das Zuhause vieler Geflüchteter ist verloren. Ihre Häuser sind völlig zerstört.

«Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich mich nach meinem Zuhause sehne. Ich hatte alles in Mariupol, aber jetzt gibt es dort nichts mehr», sagt Svitlana, eine 61-jährige Binnenvertriebene, die ihr Zuhause verloren hat.

Ich treffe Svitlana auf der Treppe des Sammelzentrums in der Stadt Sumy, fünf Autostunden von Kiew entfernt. Gerade hat sie einen Rentenantrag gestellt, weshalb sie eine Tasche und einen grossen Ordner mit Dokumenten in den Händen hält. Svitlana lädt mich für unser Gespräch in ihr kleines Zimmer ein. Sie holt den Schlüssel aus ihrer Tasche und öffnet die Tür. Es ist ein gemütliches Zimmer. Die Wände sind blau tapeziert, und möbliert ist es mit vier Betten und einem Tisch. Aus dem Fenster blickt man auf eine ruhige, schneebedeckte Strasse. Ich höre die Geräusche von Autos, die im Schnee stecken geblieben sind, und von Autofahrern, die Gas geben. Svitlana stellt ihre Taschen auf den Tisch und setzte sich aufs Bett. Freundlich bietet sie mir an, mich auf einen Stuhl vor ihr zu setzen.

«Mein ganzes Leben lang habe ich als Sekretärin des Rektors eines örtlichen Instituts gearbeitet. Als dieses geschlossen wurde, bekam ich ein Jobangebot von einer Apotheke. Das war sehr praktisch für mich, denn die Apotheke befand sich im Hof meines Hauses. Mein Mann ist vor langer Zeit gestorben, im Jahr 2006. Seitdem bin ich allein», beginnt Svitlana ihre Geschichte zu erzählen.

Ich entschliesse mich, nicht nachzufragen, ob Svitlana Kinder hat, denn ich merke, dass es der Frau schwer fällt, über die Vergangenheit zu sprechen. Ihre Augen sind voller Schmerz und Leid. Je länger wir sprechen, desto klarer wird mir, was für ein Grauen diese zerbrechliche Frau erlebt haben muss und wie tapfer sie die ganze Zeit durchgehalten hat. Ihre Heimatstadt Mariupol war seit Beginn des Konflikts in der Ukraine massiven Angriffen ausgesetzt. Dann wurde sie besetzt.

«Vom ersten Tag des Konflikts an gab es keinen Strom, dann verloren wir auch die Mobilfunk- und Internetverbindung. Das Wasser wurde schon früher abgestellt. Aus Not schöpften die Menschen Wasser aus den Pfützen, die aus dem geschmolzenen Schnee entstanden waren, und sammelten den Schnee von geparkten Autos ein. Anfangs konnten wir vor lauter Stress nicht einmal etwas essen. Später fingen wir an, Zweige zu sammeln und in der Nähe unserer Häuser Feuer zu machen, um etwas zu kochen. Der beste Einfall war gewesen, Pfannkuchen zu machen, weil sie in nur ein paar Minuten fertig waren», sagt Svitlana.

Svitlana, a 61-year-old affected IDP, who lost her home, sitting in her room in Collective Center

Svitlana ist eine 61-jährige Binnenvertriebene aus Mariupol, einer Stadt, die seit Beginn des Konflikts besetzt ist. Die Frau sitzt auf dem Bett. Svitlana hat ihr Zuhause verloren und lebt nun im Sammelzentrum der Höheren Berufsschule für Bau und Design. Das Foto wurde am 8. Dezember 2022 aufgenommen. Während unseres Gesprächs erzählte die Frau von ihrem Leben in einer besetzten Heimatstadt. @Medair/Sviatoslav Rodiuk

Wie Svitlana erwähnt, gab es in der besetzten Stadt grosse Probleme mit der Wasserversorgung. Als der Schnee schmolz und es nichts zu trinken gab, mussten die Menschen mit Flaschen zum örtlichen Fluss gehen und das Wasser von dort holen. «Wenn ich Wasser holen ging, war mir bewusst, dass ich jederzeit von einer Rakete getötet werden konnte. Es gab keinen sicheren Ort. Einmal hatte ich solche Angst, dass ich mit meiner Flasche Wasser nach Hause rannte und noch zwei Stunden lang ein Beruhigungsmittel trinken musste, um mich etwas zu beruhigen», erzählt Svitlana, während sie sich die Hände reibt und aus dem Fenster schaut.

Ein paar Tage später schlug eine Rakete in Svitlanas Küche ein. Es ist ein wahres Wunder, dass sie überlebt hat. In genau diesem Moment hielt sie sich in einem anderen Raum auf. Svitlana erklärt, dass sie gerade noch Zeit hatte, ein nasses Handtuch über die brennende Rakete zu werfen und die Tür zu schliessen, dann hörte sie schon die Rufe des Militärs von der Strasse aus. Sie warnten die Bewohner des Gebäudes, dass sie nur noch 20 Minuten Zeit hätten, um ihre Wohnungen zu verlassen. «Wir hatten solche Angst, dass wir hinausliefen, ohne irgendetwas mitzunehmen. Ich erinnere mich, wie mein gelähmter Nachbar um Hilfe schrie. Das Haus stand in Flammen, und die Menschen darin verbrannten bei lebendigem Leib. Mindestens vier meiner Nachbarn starben. Es ist die Stadt der Toten. Trotzdem träume ich davon, nach Hause zurückzukehren», sagt Svitlana.

Plötzlich treten ihr Tränen in die Augen. Sie kann sich nicht mehr zurückhalten und beginnt zu weinen. Ich halte ihre Hand. Ein paar Minuten lang sitzen wir schweigend da. Ich biete Svitlana an, Wasser zu trinken, aber sie lehnt ab. Schliesslich findet sie die Kraft, unser Gespräch fortzusetzen.

Nachdem Svitlanas Haus zerstört worden war, blieb ihr nur noch die Möglichkeit bei ihrer 84-jährigen Schwiegermutter unterzukommen, die in der Nähe lebte. Schon damals war Svitlana klar, dass sie selbst nicht länger in Mariupol bleiben konnte und auch ihre Verwandte aus der Stadt bringen musste. Vor seinem Tod hatte Svitlana ihrem Mann versprochen, seine Mutter niemals allein zu lassen. Nicht einmal ein paar Tage, nachdem Svitlana bei ihrer Schwiegermutter eingezogen war, schlug eine Rakete in die Wohnung neben der ihren ein. Die Frauen hatten keine Ahnung, wie sie aus Mariupol herauskommen sollten, und so lebten sie zwei Tage lang im Keller eines zerstörten Gebäudes.

Dann fing Svitlana an, sich nach Möglichkeiten umzuhören, wie sie die besetzte Stadt verlassen könnten. So fand sie ein Ehepaar, das jeden Tag versuchte, mit ihrem eigenen Auto Menschen in die kontrollierten Gebiete zu bringen. Mit der Hilfe des Ehepaars gelang Svitlana und ihrer Schwiegermutter die Flucht aus der Stadt. Doch in der ländlichen Gegend, in der sie sich daraufhin befanden, gab es weder Autos noch Busse. «Wir mussten 12 Kilometer über ein Feld laufen. Ich betete immer wieder, dass nichts passieren würde und dass wir unser Ziel sicher erreichen würden. Wir mussten oft anhalten, weil es meiner Schwiegermutter schlecht ging und sie in ihrem Alter nur noch schwer eine solche Strecke laufen konnte», sagt Svitlana und wischt sich die Tränen ab. Sie schaut aus dem Fenster und erzählt weiter. Als die Frauen einen sicheren Ort erreicht hatten, wurde Svitlana krank. In Mariupol habe sie nie geweint, so Svitlana, aber als sie es geschafft hatte, von dort wegzukommen, weine sie sehr oft.

«Jedes Mal, wenn mich meine Freunde aus Mariupol anrufen, weine ich, vor allem nachts», sagt Svitlana mit gebrochener Stimme.

The hall of Collective Center in Sumy, Ukraine

Die Halle im Sammelzentrum der Höheren Berufsschule für Bau und Design am 8. Dezember 2022. @Medair/Sviatoslav Rodiuk

«Als ich im Sammelzentrum untergebracht wurde, fühlte ich mich ein wenig unwohl. Es gab keine Dusche, keine Möglichkeit, Kleidung zu waschen, und keinen Platz, um Lebensmittel zu lagern. Nur eine Herdplatte funktionierte. Aber jetzt ist es sehr gut», meint Svitlana.

Früher diente das Gebäude als Schlafsaal für die Studierenden der Höheren Berufsschule für Bau und Design in Sumy. Nun ist es in ein Sammelzentrum für Binnenvertriebene umfunktioniert worden. Medair hat die Unterkunft saniert. Das Team hat eine Duschkabine, ein Waschbecken, und zwei Boiler installiert. Die Küche ist nun mit einem Herd, Kühlschrank, und einer Mikrowelle ausgestattet. Zudem gibt es zehn Betten mit orthopädischen Matratzen.

«Hier herrschen gute Bedingungen: es gibt heisses Wasser, und ich kann kochen, was ich will. Natürlich ist mir klar, dass mir hier nicht alles gehört. Ich möchte einfach nur nach Hause“, sagte Svitlana.

Jetzt versucht Svitlana, ihr Leben in Sumy zu ordnen. Die 61-jährige hat einen Rentenantrag gestellt und sucht ausserdem nach einer zusätzlichen Teilzeitbeschäftigung. Die Binnenvertriebene sagt, dass ihr der Komfort ihres Zuhauses sehr wichtig sei und sie dort zur Ruhe kommen könne. Denn sie liebte ihr Zuhause über alles. Jetzt ist es für immer verloren. Svitlana hat keine Ahnung, wie es weitergehen wird, aber sie träumt von Frieden und der Rückkehr in ihre Heimatstadt Mariupol. Am Ende unseres Gesprächs stehen ihr wieder Tränen in den Augen. Wir umarmen uns und Svitlana schenkt mir ein Lächeln.

The kitchen of the Collective Center of Higher Vocational School of Construction and Design on the in Sumy, Ukraine.

Die Küche des Sammelzentrums der Höheren Berufsschule für Bau und Design am 8. Dezember 2022 in Sumy, Ukraine. Medair kaufte einen Herd, eine Mikrowelle, Boiler und einen Kühlschrank. @Medair/Sviatoslav Rodiuk


The building of Collective Center in Sumy, Ukraine.

Das Auto von Medair steht am 8. Dezember 2022 in Sumy, Ukraine, in der Nähe des Gebäudes des Sammelzentrums der Höheren Berufsschule für Bau und Design. @Medair/Sviatoslav Rodiuk

 


Die Medair-Dienste in Sumy, Ukraine, werden von PMU, der Glückskette (CdB), CEDAR und Tearfund (NZ) finanziert.

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

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