Geschichten

Ukraine-Krise: Auf der Suche nach Sicherheit

Das Leben in der westukrainischen Stadt Ternopil ist alles andere als normal

Ihor Hirchak lächelt, doch das kann die Traurigkeit in seinen Augen nicht verbergen. Der stellvertretende Bürgermeister von Ternopil in der Ukraine verbringt seine Tage damit, Probleme zu lösen und Wege zu finden, wie die Stadt Tausende von Geflüchteten unterstützen kann.

«Das Leben wurde völlig auf den Kopf gestellt», sagt er. «Wir rechnen damit, dass in den nächsten Wochen Lebensmittel knapp werden, weil Lieferungen nicht ankommen.»

Ihor hat sich mit dem Team von Medair an der Grenze zu Polen getroffen, um beim Transport nach Ternopil zu helfen. Die 225 200-Einwohner-Stadt hat in den letzten drei Wochen über 20 000 Menschen aufgenommen. Die meisten sind nach Lviv und in andere europäische Länder weitergereist, etwa 4000 sind geblieben. Freiwillige betreiben 12 Aufnahmezentren in Schulen. Er ist sich jedoch bewusst, dass dies keine dauerhafte Lösung ist.

«Im Moment basiert alles auf dem Einsatz von Freiwilligen, aber auf Dauer funktioniert das nicht. Die Schulen sind für die Kinder, und die Freiwilligen müssen zurück an ihre Arbeit. Die lokale Bevölkerung hat nicht viel Geld, aber sie tun was sie können, um zu helfen.»

Oksana ist die Direktorin einer der Schulen. Sogar um halb zehn Uhr abends wirkt sie noch freundlich und energiegeladen. Sie und ihr Team betreiben jetzt eine Unterkunft mit 100 Betten und nehmen sogar die Laken nachts zum Waschen mit nach Hause.

Eine ältere Frau inmitten einer Menschenmenge trägt eine Decke um ihre Schultern.

Viele Familien haben bereits einen langen Weg hinter sich, wenn sie an der Grenze zu Polen ankommen.

Anatolis Familien ist in Oksanas Schule untergebracht. Seine Frau, seine zwei Kinder und seine betagten Eltern sind schon seit vier Nächten hier. Am Morgen werden sie nach Deutschland aufbrechen und durch Rumänien sowie die Slowakei reisen. Sie sind mit dem Taxi gekommen.

Unser Team fragt Anatoli, was wir tun können, um die Lage in der Unterkunft zu verbessern. Er schaut uns an, als hätten wir eine seltsame Frage gestellt.

«Es ist perfekt hier», sagt er. «Es herrscht Frieden und Ruhe. Wir haben ein Dach über dem Kopf, und wir haben eine neue Familie», sagt er während er auf Oksana zeigt.

Anatolis Zuhause in der Ostukraine befindet sich seit 2014 in umkämpftem Gebiet, die 10 Tage vor seiner Abreise jedoch beschreibt er als «Hölle auf Erden».

«Ich möchte unsere Geschichte erzählen. Es gab seit Jahren Auseinandersetzungen, aber in der letzten Zeit ist sind sie noch heftiger geworden.» Er erzählt, wie sie tagelange im Keller auf Stühlen geschlafen haben, ohne Licht, Heizung oder Handyempfang. Sie konnten die Bombenanschläge und Schüsse von draussen hören. Auch wenn es gefährlich war, entschieden sie sich schliesslich zur Flucht. Nachts liefen sie zu Fuss über die Felder. Irgendwann wurden sie dann von einem humanitären Konvoi mitgenommen. Später fuhren sie mit dem Bus, wo sie im Gang sitzen mussten, weil alle Plätze besetzt waren. In Ternopil ruhen sie sich jetzt etwas aus.

Ihor hat die Schwierigkeiten gesehen, mit denen die Menschen bei der Ankunft in Ternopil zu kämpfen haben. «Menschen kommen mit dem Zug an und erzählen, dass sie die ganze Zeit auf einem Bein stehen mussten. Eine Frau hat ihr Baby viele Stunden lang getragen. Als ich ihr das Kind abnahm, konnte sie die Hände nicht mehr spüren. Manchmal bitten die Menschen sehnlichst um Wasser.»

«Man kann kaum glauben, dass das in diesem Jahrhundert passiert», sagt Oksana. «Wir stehen alle unter Schock.»

Ihor erzählt von seinen eigenen Erfahrungen. Seine Frau und seine drei Kinder sind nach Polen gereist, vor einer Woche hat er sie an die Grenze gebracht.

«Ich kann nicht weg», sagt er. «Ich habe sie dorthin gebracht und mich von ihnen verabschiedet. Danach bin ich nach Hause gegangen, habe mir die Spielsachen angeschaut und geweint. Jetzt löse ich jeden Tag in der Stadt Probleme. Immerhin ist mein Kopf klar, weil ich mir keine Sorgen um meine Familie machen muss.»

A young boy with a bright red backpack holds an adult's hand in a crowd.

Ein Kind und seine Mutter halten sich beim Überqueren der polnisch-ukrainische Grenze die Hände.

 

Jeff Mills, Projektkoordinator von Medair, beschreibt, wie ihn die Geschichte von Anatoli zum einen dankbar und zum anderen traurig gemacht hat.

«Ich konnte sehen, wie schwer es für ihn war, über seine Flucht zu sprechen. Ich war sehr dankbar für jeden, der die Familie auf ihrem Weg unterstützt hat. Gleichzeitig war ich aber auch traurig über die Situation.»

Medairs Nothilfteam ist in Polen und der Ukraine im Einsatz. Wir helfen den vom seit Ende Februar andauernden Konflikt betroffenen Menschen. Unsere Projekte sollen Lücken in der medizinischen Grundversorgung schliessen, freiwillige Hilfsmassnahmen fördern und unterstützen, sowie Geflüchteten, Freiwilligen und psychosozialen Fachkräften in der Ukraine psychosoziale Unterstützung bieten. Wir hoffen auch, wichtige Infrastrukturen wie Spitäler, Wassersysteme und Gemeinschaftsunterkünfte instand zu setzen.

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Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

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