Geschichten

Tiefe Trauer nach Erdbeben in Syrien

Die Erdebeben vom 6. Februar brachten weiteres Unheil über das ohnehin schon krisengeschüttelte Land. Ammar, Logistiker bei Medair Syrien, teilt mit uns seine persönlichen Erfahrungen vom Tag der Katastrophe.

Zwei verheerende Erdbeben haben die Gebiete im Norden Syriens und im Süden der Türkei erschüttert. Betroffen sind 19 Millionen Menschen. In den folgenden Wochen wurden mehr als 11 000 Nachbeben registriert. Diese Katastrophe hat unermessliches Leid über die ohnehin schon krisengeschüttelten Menschen gebracht – die Auswirkungen der Erdbeben waren in der gesamten Region zu spüren.

«Ich fühle eine tiefe Trauer. Das hätten ich und meine Familie sein können, dort unter den Trümmern», sagt Ammar.

Es ist ein kalter Wintermorgen Anfang März in Aleppo in Syrien, und die Sonne ist gerade aufgegangen. Ich gehe durch die Strassen und bin betroffen von der Zerstörung, die mich umgibt. Die Häuser liegen in Trümmern, die Strassen sind voll von Schutt und Verwüstung, und es liegt ein beklemmendes Gefühl der Verzweiflung in der Luft. Inmitten der Zerstörung durchschneidet ein Geräusch die Stille. Etwas, das der Zerstörung ein klein wenig von ihrem Schrecken nimmt. Es ist das Geräusch spielender Kinder. Die Kinder rennen rufend, lachend und spielend herum, ohne der Zerstörung um sie herum Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist fast, als wären sie irgendwo, wo die Erdbeben nie passiert sind. Es bricht mir fast das Herz. Ich weiss, dass ich Verlorenes nicht zurückbringen kann, aber ich will alles tun, um zu helfen.

Als ich im Medair-Büro in Aleppo ankomme, treffe ich Ammar, der in der Logistik arbeitet. Er lebte schon vor Ausbruch des Konflikts in Aleppo. Ammar ist freundlich und aufgeschlossen und beantwortet alle meine Fragen über sein Leben vor dem Konflikt und jetzt nach den Erdbeben. Er bietet mir an, mit mir im Auto eine Runde durch die Nachbarschaft zu drehen.

Während wir durch Aleppo fahren, erinnert sich Ammar an die quirligen Märkte, die schönen Strassen und das köstliche Essen – an das Leben vor dem Konflikt. Er spricht über den Alltag und die Menschen, die er früher hier kannte. Seine Frau hat kürzlich Zwillingsmädchen zur Welt gebracht, und er erzählt mir, wie viel es ihm bedeutet, Vater zu sein.

Ein eingestürztes Haus in Aleppo, zerstört durch die verheerenden Erdbeben in Syrien und der Türkei.

Ein eingestürztes Wohnhaus einen Block hinter der Kreuzung Azizieh-Strasse. Es wurde durch die verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien am Morgen des 6. Februar 2023 zerstört. Das Foto wurde am 3. März 2023 in Azizieh in Aleppo, Syrien, aufgenommen. ©Medair/Abdul Dennaoui

Ammar erzählt: «Am Tag vor den Erdbeben bereitete ich mich gerade auf eine Reise nach Damaskus vor. An diesem Tag hatte ich ein merkwürdiges Gefühl, das ich nicht benennen konnte. Das Gefühl war beunruhigend, aber ich beschloss, es zu ignorieren. Als ich mit dem Packen fertig war, machte ich mich auf den Weg, um das Nötigste für die Reise zu besorgen, und traf mich mit dem Medair-Team an unserer Basis, aber das Gefühl blieb», sagt er.

Ein Mann steht nach den verheerenden Erdbeben in Syrien und der Türkei vor einem

Ammar, Mitglied des Logistikteams von Medair Syrien, steht vor einem eingestürzten Wohnhaus in der Azizieh-Strasse. Es wurde durch die Erdbeben in der Türkei und Syrien zerstört. Das Foto wurde am 3. März 2023 in Azizieh in Aleppo, Syrien, aufgenommen. ©Medair/Abdul Dennaoui

Ammar spricht weiter, während er das Auto parkt. «Ich wohne hier in der Gegend. Machen wir einen kurzen Spaziergang die Strasse entlang. Ich möchte dir etwas zeigen», sagt er.

Wir gehen auf ein eingestürztes Gebäude zu. Es hat keine Fassade mehr, alles liegt in Schutt und Asche.

«An einem gewöhnlichen Tag», sagt Ammar, «hätte ich mein Auto normalerweise an dieser Stelle hier geparkt, wo ich gerade stehe. Das ist mein üblicher Parkplatz. Nur ein Stück die Strasse runter von meinem Zuhause. Mein Zuhause ist nur einen kurzen Spaziergang von hier entfernt. Ich habe das Glück, heute hier zu stehen und zu wissen, dass ich meine Familie jeden Tag wiedersehen kann. Jeden Morgen bin ich früh hierhergekommen, in mein Auto gestiegen und zur Arbeit gefahren. Aus irgendeinem Grund entschied ich mich jedoch an jenem Tag [dem Tag vor den Erdbeben], mein Auto aus praktischen Gründen bei der Arbeit zu parken, nur ein paar Blocks von hier entfernt, weil die Reise nach Damaskus anstand. Gott hat mich beschützt», sagt er mit Dankbarkeit im Blick.

Ein Mann zeigt auf eine Strasse in Aleppo, in der er wohnt. Sie ist von den Zerstörungen durch die Erdbeben in Syrien und der Türkei gezeichnet.

Ammar, Mitglied des Logistikteams von Medair Syrien, zeigt auf die Strasse, in der sich sein Haus befindet. Er steht vor einem eingestürzten Wohnhaus in der Azizieh-Strasse, das durch die Erdbeben in Syrien und der Türkei zerstört wurde. Das Foto wurde am 3. März 2023 in Azizieh in Aleppo, Syrien, aufgenommen. ©Medair/Abdul Dennaoui

Er fährt fort: «Ich wusste nicht, dass in derselben Nacht ein verheerendes Erdbeben meine Stadt in Schutt und Asche legen würde. An fast jedem anderen Tag hätte es mich treffen können; ich hätte in meinem Auto gesessen und ein Gebäude wäre auf mich hinabgestürzt.»

Nach einer kurzen Pause fährt Ammar fort: « Am frühen Morgen des 6. Februar lag ich schlafend in einem Hotel in Damaskus, wo unser Team einen Workshop durchführen sollte. Ich wachte durch das Geräusch einer zuschlagenden Tür auf. Zuerst war ich etwas orientierungslos, aber als ich ins Bad ging, spürte ich, wie der Boden unter mir bebte. Hinter der Tür hörte ich Menschen schreien. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Mir wurde auf einmal bewusst, dass die Badezimmertür geschlossen war, dabei hatte ich sie am Abend vorher offen gelassen.»

Als das Beben anhielt, öffnete Ammar die Tür zum Flur. «Ich sah Leute auf dem Boden liegen und Schutz suchen. Zuerst kam mir nicht in den Sinn, dass es ein Erdbeben sein könnte, geschweige denn, dass es zu Hause in Aleppo für eine Katastrophe sorgen könnte. Vorsichtshalber blieb ich auch auf dem Boden. Später am Morgen erfuhren wir, dass es ein schweres Erdbeben gegeben hatte, das auch meine Stadt getroffen hatte, in der sich meine Familie aufhielt.»

Ammar beschreibt das Gefühl der Panik, das ihn ergriff, als er erfuhr, dass Aleppo von dem Erdbeben betroffen war. «Ich habe sofort zu Hause angerufen, aber niemand nahm den Hörer ab. Als nächstes rief ich meine Schwester an, um zu sehen, ob sie wusste, was los war. Ich musste wissen, dass es meiner Familie gut geht!»

Schliesslich erfährt Ammar, dass sein Bruder seine Frau und Kinder abgeholt und aus der Stadt gebracht hatte. Als er endlich mit seiner Frau sprechen kann, steht sie unter Schock.

«Sie hatte Todesangst. Sie erzählte mir, dass die Wände in unserem Haus zitterten und rissen und während des Erdbebens hin und her schwankten. Während wir telefonierten, hielt sie unsere Zwillingsbabys in den Armen. Das Schwanken der Wände wurde von einem unvorstellbaren Geräusch begleitet. Sie beschrieb es mir als das Geräusch der Erde, die sich auftut und alles mit sich reisst.»

In der Nähe des Zuhauses der Familie waren Gebäude eingestürzt. Ammar beschreibt, wie seine Nachbarn durch die Strassen liefen und unter den Trümmern nach geliebten Menschen suchten, als das zweite Erdbeben zuschlug.

«Die Menschen waren bereits durch das erste Beben traumatisiert, und als das zweite kam, war das einfach zu viel für sie. Ich kenne einige Menschen, die immer noch nicht in die Nähe ihres Wohnorts gehen können, weil sie das Trauma, das sie während der Erdbeben erlitten haben, nicht erneut durchleben wollen.

Ich hatte solche Angst um meine Familie, weil ich während dieser schrecklichen Zeit nicht bei ihnen sein konnte. Die Angst in der Stimme meiner Frau am Telefon zu hören, brach mir das Herz. Ich war mir nicht sicher, ob es weitere Erdbeben geben würde; ich wusste ja um die möglichen Nachbeben. Was meine Familie durchgestanden haben muss, ist unbegreiflich», sagt er voller Kummer.

Als wir zurück zum Auto gehen, sagt Ammar: «Mein Herz tut weh, wenn ich an die Familien denke, die von den Erdbeben schwer getroffen wurden. Ich muss immer wieder an die Zeiten denken, als ich an diesem Gebäude vorbeiging und hörte, wie die Leute von den glücklichen Zeiten erzählten, die sie hier verbracht hatten. Man hörte oft Gelächter und eine Fröhlichkeit lag in der Luft. Aber jetzt ist alles weg, weggerissen in einem einzigen Moment von einer höheren Gewalt jenseits unserer Kontrolle. Ich fühle eine tiefe Trauer. Das hätten ich und meine Familie sein können, unter den Trümmern», sagt er und fährt sich mit der Hand über den Kopf. Er habe sich angesichts der Zerstörung hilflos und überwältigt gefühlt, aber er wusste, dass er helfen musste. Die Fahrt mit Ammar hat mich demütig gemacht. Die Zerstörung mit eigenen Augen zu sehen, war eine wichtige Erinnerung daran, wie viel Leid die Menschen in Aleppo ertragen mussten. Aber es war auch eine Erinnerung an ihre Stärke.

Trümmer eines eingestürzten Hauses liegen in Aleppo auf der Strasse. Das Haus wurde durch die verheerenden Erdbeben in Syrien und der Türkei zerstört.

Die Trümmer eines eingestürzten Wohnhauses, die durch die Erdbeben in Syrien und der Türkei zerstört wurde, blockieren teilweise die Strasse im Azizieh-Viertel in Aleppo, Syrien (3. März 2023). ©Medair/Abdul Dennaoui

 


Die Erdbebenhilfe und die Arbeit von Medair in Aleppo werden durch den Syrian Humanitarian Fund (SHF), die Glückskette, die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) des Schweizerischen Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) sowie durch die Europäische Union gefördert. 

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

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