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Talentsuche inmitten eines weltweiten Lockdowns

Gerade jetzt ist es wichtig, die passenden Mitarbeitenden für unsere Teams zu finden. Dafür mussten wir unsere Rekrutierungsstrategie anpassen.

Humanitäre Arbeit kann ebenso bereichernd wie anspruchsvoll sein. Die Arbeitszeiten sind lang und oft ist der Einsatz mit hohen Belastungen verbunden, weit weg von der Familie und in einem Umfeld gezeichnet von Konflikten oder Naturkatastrophen. Leistungsstarke Teams sind die Basis wirksamer Interventionen. Dafür brauchen wir Menschen mit innovativen Ideen, neuen Perspektiven und Leidenschaft für ihre Arbeit.

Rekrutierung zu Zeiten der Pandemie

Die passenden Mitarbeitenden für humanitäre Einsätze zu finden, ist nie einfach, wird jedoch inmitten einer Pandemie zur besonderen Herausforderung. Zum einen steigt in der humanitären Hilfe weltweit die Nachfrage nach Schlüsselqualifikationen in Bereichen wie Gesundheit, Logistik und Technologie, gleichzeitig haben Mitarbeitende aufgrund von Reisebeschränkungen Schwierigkeiten, Einsatzorte zu erreichen. Der Relief & Recovery Orientation Course (ROC) von Medair ist ein wichtiger Bestandteil unseres Rekrutierungsprozesses. Bisher reisten viele Menschen dafür in die Schweiz. Die Treffen fanden in geschlossenen Räumen statt.

Mit der Pandemie haben wir unsere Rekrutierungsmethoden auf zweierlei Weise angepasst: Wenn Teilnehmende nicht zum ROC kommen können, bringen wir den ROC zu ihnen – und dort, wo wir keine Mitarbeitenden entsenden können, besetzen wir die Stelle remote durch erfahrenen Kollegen.

Der virtuelle ROC

Der ROC ist ein wichtiger Teil des Rekrutierungsprozesses von Medair, im Rahmen dessen die Eignung von Menschen für die Arbeit bei Medair geprüft wird. Die Übungen selbst sind ein gut gehütetes Geheimnis, aber haben eines gemein: Sie spiegeln die Realität der Arbeit in einem humanitären Einsatz wieder.

Die Rekrutierung von neuen Mitarbeitenden musste auch während der Pandemie weitergehen. Daher suchten wir nach einem Weg, den ROC ohne Reisen oder grössere Versammlungen durchzuführen. Mit dem virtuellen ROC (vROC) fanden wir dafür eine innovative Lösung.

Sicher ist es keine leichte Aufgabe, ein humanitäres Umfeld virtuell nachzustellen. Wir begannen mit einer Geschichte. Darauf aufbauend erarbeiteten wir Übungen, die von Teilnehmenden fortlaufend ausgeführt werden. Einige unserer Mitarbeitenden spielten die Hauptrollen und interagierten per Videoanruf mit den Teilnehmenden. Wir verwandelten Zuhause und Arbeitszimmer in humanitäre Schauplätze. Über verschiedene Chats und Besprechungsräume wurden «Lernen» und «Handeln» getrennt.

Im Rahmen des ersten vROC im November 2020 wurde rasch klar, dass die Herausforderungen alle, mit denen wir bisher konfrontiert gewesen waren, übertrafen. Allein die Zeitunterschiede waren erheblich: Gruppenübungen, die in Genf um 22 Uhr endeten, dauerten in Vancouver bis 13 Uhr und in Nairobi um Mitternacht. Obwohl auf eine stabile Internetverbindung Wert gelegt wurde, kam es vor, dass Teilnehmende und Mitarbeitende kurzzeitig aus einer Gruppenübung verschwanden, nur um Minuten später festzustellen, dass sich das Szenario komplett verändert hatte. Dazu kamen die üblichen Fragen: «Können Sie mich hören?» und «Können bitte alle auf stumm schalten?» Da wir derartige Anlaufschwierigkeiten vorausgesehen hatten, fand unser erster vROC mit nur acht Teilnehmenden statt, allesamt erfahrene und mit den Anforderungen des Sektors vertraute Mitarbeitende. Den nächsten vROC im März 2021 planen wir mit doppelt so viel Teilnehmenden.

«Wir haben erneut bewiesen, dass wir anpassungsfähig und in der Lage sind, den ROC trotz schwieriger Umstände in nie dagewesener Art und Weise durchzuführen», sagt Pete, Personalverantwortlicher und Koordinator des November vROC. «Ziel des ROC ist es, die nächste Generation von Medair-Mitarbeitenden zu finden. Der vROC ermöglicht dies sogar inmitten einer weltweiten Pandemie. Wir waren begeistert von dem Ergebnis und den Kandidaten.»

Jacob, ein Teilnehmer des vROC, stimmt dem zu. «Es fühlte sich an wie eine physisch reale Erfahrung», erinnert er sich. «Die Schulungsinhalte umfassen sämtliche Herausforderungen, denen humanitäre Helfer im Einsatz begegnen.»

Simon, ein anderer Teilnehmer, sieht das genauso. «Es handelte sich um ein komplettes Lernpaket», fügt er hinzu. «Der Kurs gab mir die Gelegenheit, mich mit humanitären Experten aus aller Welt auszutauschen.»

Homeoffice

Die zweite Anpassung, die wir bei Rekrutierungen vorgenommen haben, ist die Umstellung auf Homeoffice. Wie viele Menschen rund um die Welt mussten sich unsere lokalen und internationalen Teams während der Pandemie daran gewöhnen, von Zuhause zu arbeiten. Es war eine Herausforderung, jedoch machbarer als es zunächst schien. Mittlerweile sehen wir darin auch eine Chance.

Aufgrund der abgesagten ROCs anfangs und Mitte 2020 konnten wir keine neuen Mitarbeitenden entsenden. Daraus entstand die Sorge um mögliche Personalengpässe in den Einsatzgebieten. Eine unserer wertvollsten Ressourcen sind unsere Mitarbeitenden. Die Umstellung auf Homeoffice bot mehr Flexibilität bei der Besetzung offener Stellen und erfahrene Medair-Mitarbeitende waren dafür bereit, ihre Stellen im Feld aufzugeben.

Eine Stelle im Einsatzgebiet aufzugeben, ist nicht einfach. Der Wunsch, näher bei geliebten Menschen zu sein oder eine Familie zu gründen, kann bei der Entscheidung eine Rolle spielen. Wenn wir Ehemalige für Telearbeit gewinnen, können wir ihr Wissen und ihre Expertise nutzen, wo sie am dringendsten benötigt wird. Ehemalige aus dem Feld haben Erfahrung mit schwierigen Strassenverhältnissen und Beschaffungsengpässen, die die Umsetzung oder Ausweitung von Programmen erschweren. Gleichzeitig kennen sie die Notwendigkeit von Abstandsregeln bei Verteilaktionen oder der Bereitstellung von Schutzmasken und Handdesinfektionsmitteln für Einsatzteams. So können ehemalige Mitarbeitende humanitäre Arbeit leisten und das tun, was ihnen am Herzen liegt, ohne dabei ihre Familien allein zu lassen.

Rekrutierung 2021

Wie andere Organisationen mussten wir aufgrund der Pandemie unsere Arbeitsweise anpassen, darunter auch unsere Rekrutierungsmethoden. Dank des vROC konnten wir Kontakte zu potenziellen neuen Mitarbeitenden knüpfen und mit Ehemaligen kooperieren, die gerne weiter mit uns arbeiten wollten, ohne dabei ihre Familien alleinzulassen. Vermutlich wird dies auch im Jahr 2021 so bleiben. Die aktuelle Situation erfordert praktische, flexible und zielorientierte Lösungen. Das ist unter den derzeitigen Umständen das Beste, worauf wir hoffen können.


Die Inhalte dieses Artikels stammen von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten sowie am internationalen Hauptsitz. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

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