Psychische Gesundheit – ein wichtiger Teil der Nothilfe

Simon lebte allein, am Rande seines Dorfes. Weit weg von Familie und Freunden baute er an seiner eigenen Hütte (tukul) und sammelte lange Gräser für das Dach. Die Haare schnitt er schon lange nicht mehr, seine Mahlzeiten kochte und ass er ganz ohne Gesellschaft. Jeden Morgen machte er sich auf den Weg zum Brunnen, um Wasser zu holen. Manchmal sprach er dabei mit sich selbst.

Der Einsiedler stammt aus dem Bundesstaat Unity im Südsudan. Anhaltende Konflikte und die rohe Gewalt trieben ihn und zahlreiche andere Menschen immer wieder in die Flucht. Mitte 2018 eskalierte die Lage: Häuser brannten, Menschen verloren Familienmitglieder, sie erlebten massive Zerstörung und Frauen wurden in hoher Zahl vergewaltigt oder verschleppt.

In manchen Regionen wäre der zurückgezogene Simon kaum aufgefallen. Doch im Südsudan leben Menschen überwiegend im Familien- und Gemeinschaftsverbund, Einzelgänger sind eine seltene Ausnahme. Gerade junge Männer bleiben bis zur Hochzeit bei ihren Eltern. Die Hütten und Häuser werden nicht von Einzelpersonen, sondern von ganzen Gemeinschaften errichtet, und Männer halten ihre Haare traditionell möglichst kurz

James Gatguok arbeitet als psychosozialer Mitarbeiter für Medair. Er lebt im selben Dorf wie Simon und stattete ihm eines Tages einen Besuch ab. Gemeinsam bauten sie am Tukul weiter. Nach mehreren Treffen gelang es James Simon auf die Möglichkeit einer Unterstützung  im Medair-Gesundheitszentrum anzusprechen. Doch Simon winkte ab. Dass ihm etwas fehlte, sah er vorerst nicht ein.

Michael, Mitarbeiter im Ernährungsbereich, unterhält sich mit einer Frau, deren Baby im Bundesstaat Unity im Südsudan behandelt wird. Die Bereitstellung aller Dienste auf eine Weise, die die psychische Gesundheit und das soziale Wohlbefinden fördert,ist Teil der Hilfeleistung, damit sich Gemeinschaften von Krisen erholen können.

Riёt Kroeze ist leitende psychologische Beraterin (Senior Mental Health and Psychosocial Support Advisor, MHPSS) bei Medair. Dass Grundbedürfnisse gedeckt werden müssen, steht für sie ausser Frage. Doch es gibt ihrer Meinung nach viel mehr zu beachten:

«Wenn wir die Auswirkungen einer Katastrophe beurteilen, müssen wir auch die psychische Gesundheit der Bevölkerung mitberücksichtigen. Ansonsten entsteht ein unvollständiges Bild», so Riёt. «In allen Bereichen der humanitären Arbeit kann ein psychosozialer Ansatz zur Hilfeleistung integriert werden.»

Selbst wenn individuelle Leistungen nicht oder kaum möglich sind, können humanitäre Organisationen einem grossen Teil der Bevölkerung angemessene Hilfe bieten.

«Gewalt, Angst und Unsicherheit führen zu Chaos. Wenn Lebensgrundlagen verloren gehen, wirkt sich das emotional auf Betroffene aus. Nicht alle aber sind in gleicher Weise betroffen», erklärt Riёt. «Darum gibt es unterschiedliche psychosoziale Ansätze, die im humanitären Kontext angewendet werden können – angepasst an die Kultur und die Bedürfnisse der jeweiligen Gemeinschaft.»

Um die seelische Gesundheit von Menschen zu erhalten oder wiederherzustellen, braucht es manchmal gar nicht so viel. Wenn Bewusstsein geschaffen wird und positive Bewältigungsstrategien erlernt werden, wird oft schon viel Gutes erreicht. Selbsthilfegruppen, Unterstützung für Eltern sowie kulturelle Aktivitäten können dazu beitragen, dass eine Gemeinschaft sich von schweren Schocks, z. B. nach einer Katastrophe, erholen kann.

Im Südsudan ist Psychotherapie wenig verbreitet, gezielte Leistungen sind demnach nur beschränkt verfügbar. Um dies zu ändern, bildet Medair lokales Gesundheitspersonal im Bereich der psychologischen Gesundheit aus. Ein von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickeltes, standardisiertes Instrument dient dafür als wichtige Grundlage. Es wird im humanitären Kontext zur Einschätzung und Steuerung von Massnahmen bei psychischen bzw. neurologischen Erkrankungen eingesetzt.

Im Fall von Simon liess James Puoch, der ebenfalls als psychosozialer Mitarbeiter bei Medair arbeitet, nicht locker und begleitete ihn immer wieder zum Wasser holen.

«Weil James Gatguok Simon täglich besuchte und ihm beim Bau seiner Unterkunft half, erfuhren wir, dass der Mann etliche Freunde und Verwandte verloren hatte», erinnert sich Puoch. «Er vertraute niemandem mehr. Nach einem Gespräch bei der Wasserstelle willigte er schliesslich ein, das Gesundheitszentrum zu besuchen». Ein Mitarbeiter von Medair untersuchte Simon und diagnostizierte eine Psychose. Nachdem die Behandlung begonnen hatte, blieben James Gatguok und Simon in Kontakt.

«Wir sprachen jeden Tag mit ihm, und langsam wurde er wieder mehr der alte Simon. Er bat James Gatguok sogar, ihm die Haare zu schneiden», so Puoch. «Heute geht es Simon besser und er kann wieder am Gemeinschaftsleben teilnehmen. Er unterhält sich mit seinen Nachbarn und geht auf den Markt. Bald möchte er sogar heiraten!»

«Während Krisensituationen sind Menschen mit bestehenden psychischen Krankheiten besonders anfällig. Einerseits setzt der enorme zusätzliche Stress ihnen stärker zu als anderen, und andererseits kann die Versorgung mit Medikamenten während Krisen oft nicht mehr sichergestellt werden», erklärt Riёt.

Als der Konflikt im Südsudan 2013 ausbrach, wurde die medizinische Versorgung grösstenteils unterbrochen. Im Bundesstaat Unity harrten viele Betroffene in Buschgebieten ausserhalb ihrer Dörfer aus. In kleinen Teams kümmern sich Medair-Mitarbeitende seither um Betroffene; behandelt wird oft in gemieteten Räumen oder sogar im Schatten eines Baumes. Die Nachricht, dass Hilfe verfügbar ist, verbreitet sich jeweils wie ein Lauffeuer.

«Patienten mit Epilepsie nehmen oft weite Wege auf sich, wenn sie erfahren, dass Medikamente verfügbar sind», so Natalie Page, Medair-Gesundheitsberaterin für den Südsudan. «Viele von ihnen wurden seit Jahren nicht behandelt, teilweise haben sie noch gar keine Diagnose. Unsere Mitarbeitenden diagnostizieren und behandeln zahlreiche Fälle von Epilepsie. Die Anfälle bleiben danach meistens aus, und Betroffene verletzen sich nicht mehr.»

Eine Frau erreichte uns mit tiefen Wunden und Narben an den Händen. Diese hatte sie sich zugezogen, weil sie während Epilepsie-Anfällen mehrmals ins offene Feuer gestürzt war, erzählte sie uns. Wir gaben ihr Medikamente und ermahnten sie, den Vorrat nicht mit anderen Menschen zu teilen.

«Die Frau reagierte erstaunt», so Natalie: «Diese Medikamente haben mein Leben verändert», rief sie. «Warum sollte ich sie denn teilen wollen?»

Eine andere Patientin berichtete, sie habe seit Jahren nicht mehr richtig geschlafen. Sie wachte am Bett ihrer kleinen Tochter, aus Angst, die Kleine könne nachts einen epileptischen Anfall bekommen. Die Medikamente, die wir ihr verabreichten, zeigten ihre Wirkung – und kurz darauf kehrte auch ihr Schlaf zurück.

Gleich zu Beginn eines humanitären Einsatzes müssen nebst den dringendsten materiellen Bedürfnissen in der Bevölkerung zwingend auch die psychologischen berücksichtigt werden. Ideal sind gemeinschaftsbasierte und partizipative Ansätze, die Menschen auf allen Ebenen der Gesellschaft Zugang zu Leistungen geben. Mit systematischen Bedarfsanalysen und einer ganzheitlichen Unterstützung kann die positive Wirkung der herkömmlichen Hilfsmassnahmen erheblich gesteigert werden.

«In Notsituationen gilt es, Zugang zu Basisversorgung, also medizinischen Leistungen und Trinkwasser, zu schaffen. Wenn die emotionalen Bedürfnisse in einer Gesellschaft jedoch nicht angegangen werden, wird sie sich beim Wiederaufbau sehr schwer tun», so Riёt weiter. «Wie sollen Menschen die Trümmer eines Landes beseitigen, wenn ihre seelischen Wunden noch schmerzen?»

 

Die Arbeit von Medair im Bundesstaat Unity im Südsudan wird unterstützt von UK aid der britischen Regierung, der US-Behörde für internationale Entwicklung (USAID), dem South Sudan Humanitarian Fund sowie privaten Spenderinnen und Spendern.

Die Inhalte dieses Artikels stammen von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten sowie am internationalen Hauptsitz. Die geäusserten Meinungen entsprechen ausschliesslich jenen von Medair und damit nicht unbedingt dem offiziellen Standpunkt anderer Hilfsorganisationen.

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