Geschichten

Nähsaison

Quer durch die Ukraine einschliesslich der Hauptstadt Kiew sind die Schäden aufgrund der Kampfhandlungen enorm. Nach Abzug von Truppen sind ganze Landstriche verwüstet und den dort lebenden Menschen bleibt nicht einmal mehr das Notwendigste – wie beispielsweise adäquate Unterkünfte. Die Winter in der Ukraine sind oft streng, die Witterungsbedingungen extrem. Die Reparatur von Fenstern, Türen und Dächern oder die Versorgung von Menschen mit Brennstoffen können Leben retten. 

 «Ich habe inständig gebetet und gehofft, dass uns jemand zu Hilfe kommen würde. Ohne Unterstützung hätte ich nicht überlebt», sagt Olha. 

 Allgemein herrscht in der ukrainischen Bevölkerung eine Abneigung gegenüber dem Winter und beim ersten Schneefall dieses Jahres am 17. November kam keine Freude auf. Die Ukraine ist für ihre strengen Winter bekannt, es herrschen extreme Wetterbedingungen mit starkem Wind und bitteren Minustemperaturen von bis zu -20°C. Die Wohnungen der Bewohner der Hauptstadt Kiew verfügen über richtige Heizsysteme, obwohl in Betracht auf den sich verschärfenden Konflikt und die schwindenden Energieressourcen nicht feststeht, wie nützlich diese Heizungen sein werden. Doch in den ländlichen entlegenen Gebieten wie Krasne in der Region Tschernihiw sind die Menschen um einiges stärker den harten Witterungsbedingungen ausgesetzt.  

An elderly woman stands in front of her home in Ukraine and talks with a humanitarian.

Die 92-jährige Olha spricht vor ihrem Schuppen in der ukrainischen Oblast Tschernihiw mit einem Mitarbeiter von Medair (17. November 2022). ©Medair/Abdul Dennaoui

Es war ein grauer, regnerischer Tag in der Oblast Tschernihiw. Auf unserer Fahrt von Kiew nach Krasne konnten wir beobachten, wie die Gegend immer dünner besiedelt und einsamer wurde, je weiter wir uns von der Stadt entfernten. Krasne ist eine grösstenteils bäuerliche Gemeinde mit rund 1300 Einwohnern. Als wir vor Ort eintrafen war die Zerstörung allgegenwärtig. Die Verwüstung war Resultat der Angriffe der gegnerischen Streitkräfte bei ihrem Versuch, die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Krasne war vor dem Abzug der Truppen einer der Hauptschauplätze der Auseinandersetzungen. Während ich mich umsah und an die hier vorgefallenen Ereignisse erinnerte, spürte ich eine tiefe Traurigkeit. In der vergangenen Nacht war Schnee gefallen und hatte das Dorf weiss gefärbt. Die schmalen Strassen wirkten gespenstisch und verlassen. Gelegentlich fuhr langsam ein Auto vorbei, doch keine Menschenseele war zu Fuss unterwegs. Das Medair-Team hatte die dreistündige Fahrt auf sich genommen, um erst Sanierungsarbeiten vorzunehmen und dann in Koordination mit Nukraine, einer humanitären Partnerorganisation vor Ort, einige Formalitäten mit den Gemeinschaftsmitgliedern zu erledigen. Nach ein paar Hausbesuchen mit unserem für Unterkünfte zuständigen Team und einem Treffen mit einigen sehr dankbaren Gemeinschaftsmitgliedern, kam ich bei Olha an. Ihr kleines gelb- und blau-gestrichenes Haus widerspiegelte die Farben der ukrainischen Flagge. Auf dem gut gedeckten Dach lag Schnee und ich konnte sehen, dass die neuen Glasfenster durch die Wärme drinnen beschlagen waren.  

Danylo, einer der Techniker des Teams von Medair, stand an der Haustür und musste einige Male rufen, bis schliesslich von Weitem eine Stimme antwortete und uns aufforderte, in den Hof zu kommen. Vorbei an einem Hühnerstall, in dem wir auch Enten erblickten, gelangten wir zur Rückseite des Hauses. Dort waren die 92-jährige Olha und ihr 69 Jahre alter Sohn Mikhael dabei, Kartoffeln und Kohl aus dem Schuppen zu holen. Aber erst als Danylo sich vorstellte, fingen die beiden an zu sprechen. Sie begrüssten uns herzlich und luden uns in ihr behaglich warmes Haus ein. Dort warteten wir, bis Danylo alles Formelle erledigt hatte, und setzten uns dann mit Olha zu einem kurzen Gespräch in ihr Zimmer. Überall hingen gemusterte Vorhänge mit verschiedensten Blumen und wunderschönen, komplexen Motiven. An den Wänden, unmittelbar unter der Decke, hingen Portraitfotos. Auf den Stühlen lagen kleine genähte Kissen mit ähnlichen Motiven wie auf den Vorhängen. Als sie den erstaunten Ausdruck auf den Gesichtern unseres Teams bemerkte, machte Olha sich an ein paar Kissen zu schaffen und erklärte: «Oh ja, das ist ein altes Hobby von mir. Ich begann, als ich zwölf Jahre alt war, und hatte sofort Freude am Nähen. Es ist zehn Jahre her, seit ich zum letzten Mal genäht habe. Das Alter bringt eben auch Nachteile mit sich: Meine Augen sind leider so schwach geworden, dass ich nicht mehr nähen kann. Früher war der Winter meine liebste Jahreszeit – er war unsere Nähsaison», erzählte Olha in Erinnerung an eine glückliche Zeit. 

An elderly woman sits on a bed in a room covered with patterned curtains.

Die 92-jährige Olha sitzt in ihrem Haus in der ukrainischen Oblast Tschernihiw vor mit handgemachten Vorhängen dekorierten Wänden (17. November 2022). ©Medair/Abdul Dennaoui

«Ich bin 92 Jahre alt – so alt wie dieses Haus», sagte sie stolz und lachte. «Ich bin hier in Krasne geboren und habe mein ganzes Leben hier verbracht. Es war nie nötig, zu verreisen. Wir sind Bauern und leben von unserem Land. Was könnte ich sonst noch brauchen? Ich habe jung geheiratet. Mein Mann, Gott hab ihn selig, brachte mich in dieses Haus. Er starb vor 39 Jahren und ich vermisse ihn jeden Tag mehr. Wenn man älter wird, dann hält man an dem fest, was rein ist – so wie unsere Liebe. Er war ein guter Mensch. Seit dem Tod meines Mannes lebe ich hier mit meinem einzigen Sohn Mikhael», sagte sie und schaute ihn stolz an. «Wir haben grosses Glück, heute hier mit Ihnen zu sitzen», erklärte sie mit einem demütigen Lächeln.  

 Nach einer kurzen Pause fuhr Olha fort: «Eines Abends waren Mikhael und ich zu Hause. Wir hatten den ganzen Tag auf dem Feld gearbeitet. Ich war dabei, das Abendessen für uns und unsere Nachbarn vorzubereiten. Wir hatten Kerzen angezündet, weil es keinen Strom gab. Draussen war es dunkel und ruhig aber ich erinnere mich, dass ich selbst recht unruhig war. Mein Kopf war voller Gedanken über das, was ich über den Konflikt und die Angriffe und gehört hatte. Alle sprachen nur davon. Vor Angst, dass uns ein solcher Angriff treffen könnte, drehte sich mir der Magen um. Ich ging in mein Schlafzimmer, um meinen Mantel zu holen, weil mir kalt war», sagte sie und hielt kurz inne, als versuche sie, sich die Ereignisse korrekt in Erinnerung zu rufen. Dann fuhr sie fort: «Ich hatte meinen Mantel angezogen und war gerade auf dem Weg zurück in die Küche, als meine Angst auf einmal Wirklichkeit wurde. Die Explosion ereignete sich ganz plötzlich. Ich verspürte nur einen heftigen Stoss von der Seite, dann wurde alles schwarz. Der Lärm war unbeschreiblich. Es war als hätte man die grossen Betonsplitter hören können, die herumflogen und alles zerstörten, was ihnen im Weg war. Der Einschlag war so stark, dass ich zu Boden geschleudert und mit Scherben überschüttet wurde. Mein Sohn, der um mein Leben fürchtete, schrie nach mir. Überall war Staub, sodass ich ihn nicht sehen konnte, aber ich konnte ihn hören», sagte sie, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. «Ich höre die Geräusche manchmal immer noch in meinem Kopf und wenn ich nachts Lärm höre, wache ich panisch auf. Nach diesem Abend schliefen wir einige Zeit bei unseren Nachbarn, bevor wir nach Hause zurückkehrten. Keiner von uns hielt es aus, allein zu sein. Provisorisch hingen wir Plastikplanen vor die Fenster. Wir wussten, dass es keine langfristige Lösung war, doch die Nächte hier sind kalt und der Winter stand kurz vor der Tür. Es war besser als nichts. Ich hatte Angst vor dem nahenden Winter. In unserem Haus würde es bitterkalt sein, und ich fragte mich, wie ich es wohl schaffen würde, mich warm zu halten. Ich bin alt und müde und fürchtete um mein Leben. Ausserdem hänge ich sehr an meinem Haus, denn mein Mann hat es geliebt. Es war unser gemeinsames Zuhause und ich wollte es nicht verlassen. Ich habe Tag und Nacht inständig gebetet, dass uns jemand helfen würde. Ohne Unterstützung hätten wir nicht überlebt. Das Wichtigste ist, dass wir uns jetzt wieder sicher fühlen», sagte sie mit einem dankbaren Lächeln im Gesicht.  

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Am 17. November 2022 wurden in Olhas Haus im Oblast Tschernihiw neue Fenster eingesetzt. ©Medair/Abdul Dennaoui

Medair hat in Zusammenarbeit mit Nukraine, einer Partnerorganisation vor Ort, die Häuser von siebzehn vom Konflikt betroffenen Familien in Krasne instandgesetzt. Die Arbeiten umfassten Wetterschutz, Reparaturen sowie Ausbesserungen an Wohngebäuden in der Gegend. Um die Häuser winterfest zu machen und den Menschen Sicherheit, Schutz und Wärme zu bieten, wurden Fenster, Türen und Dächer repariert. Medair hat alle Fenster von Olha und Mikhael neu verglast und das gesamte Dach ersetzt. Olha und Mikhael brauchen in diesem Winter keine Angst vor der Kälte zu haben.  

 


Die Dienste von Medair in der Ukraine werden von Mission East, PMU, der Glückskette, Cedar und The New Humanitarian finanziert.  

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.  

A home in Krasne, Ukraine after shelter rehabilitation.

Blick aus der Ferne auf Olhas Haus in der Oblast Tschernihiw nach der Sanierung (17. November 2022). ©Medair/Abdul Dennaoui


A home in Krasne, Ukraine in winter after shelter rehabilitation.

Olhas Haus in Krasne in der Oblast Tschernihiw im Winter nach der Instandsetzung (17. November 2022). ©Medair/Abdul Dennaoui

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