Krise im Sindschar-Gebirge | 5 Jahre danach

Fünf Jahre nach der Krise im Sindschar-Gebirge unterstützt Medair noch immer Überlebende vor Ort.

Im Sommer 2014 flüchteten Zehntausende jesidische Männer, Frauen und Kinder aus dem Nordirak unter der sengend heissen Sonne ins Sindschar-Gebirge. Für Jesiden, eine der ältesten Minderheiten im Irak, gilt das Gebirge als heiliger Ort. Dort suchten sie Zuflucht vor der sich zuspitzenden Gewalt; ausgeübt durch schwer bewaffnete, immer näher rückende Kämpfer.

Belagert und in die Enge getrieben harrten Zehntausende* Menschen ohne Essen und Wasser auf dem Berg aus, während die Temperaturen auf bis zu 50° Celsius stiegen. Nicht allen Jesiden gelang die Flucht: Hunderte von ihnen wurden getötet oder entführt und anschliessend versklavt.

Die internationale Aufmerksamkeit nahm zu, als sich die humanitäre Krise verschärfte. Die Vereinten Nationen erklärten die Lage zum Notfall der höchstmöglichen Stufe 3 und humanitäre Organisationen wurden dazu aufgerufen, in der Region aktiv zu werden.

Ein Nothilfeteam von Medair war innert 72 Stunden vor Ort, um notleidende Gemeinschaften mit lebensrettenden Leistungen zu versorgen. In nur sechs Wochen konnte das Team 11 000 Menschen unterstützen.

«Schon bevor sie [bewaffnete Gruppen] unser Dorf erreichten, ahnte ich, dass etwas Schlimmes passieren würde. Ich machte mir grosse Sorgen um unsere Gemeinschaft», berichtet Afrah, eine jesidische Überlebende, die heute für Medair in Sindschar in der psychosozialen Hilfe arbeitet und Therapiegruppen leitet. «Ich war unter den Opfern, aber zum Glück haben die Angreifer mich nicht erwischt und entführt», fügt sie hinzu.

«Ich war gerade auf dem Weg in die Stadt Sindschar, als mein Bruder sagte, ich solle sofort heimkommen. Zuhause angekommen, rief ich meine Freunde an – da spürte ich, dass etwas nicht stimmte», erklärt Afrah. «Ich weckte meine Geschwister und half ihnen beim Anziehen. Wir stiegen in den Wagen meines Cousins und fuhren los. Mein Vater blieb zunächst alleine zurück. Wir verloren den Kontakt und konnten niemanden anrufen, weil das Netz zusammengebrochen war.»

Innerhalb weniger Tage verliessen rund eine Million Menschen fluchtartig ihre Häuser. Die Zahl der Betroffenen sollte in der darauffolgenden Zeit noch um ein Vielfaches ansteigen: Insgesamt wurden sechs Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Familien liessen ihr gesamtes Hab und Gut zurück; flohen oft barfuss und einzig mit den Kleidern, die sie an dem Tag gerade trugen. Afrahs Vater hatte Glück: Als einer von Wenigen schaffte er es über die Grenze nach Syrien.

Wie lange die Krise andauern würde, wusste zu dem Zeitpunkt niemand. Rückblickend sagen viele, sie wären davon ausgegangen, nach wenigen Tagen wieder zurückkehren zu können.

«Uns wurde gesagt, wir könnten in zwei Stunden wieder nach Hause. Wir hatten keine Ahnung, was mit uns geschehen würde», so Afrah. Nach dem Angriff auf Sindschar sollte es fünf lange Jahre dauern, bis sie endlich ihn ihre Heimat zurückkehren konnte.

Bewaffnete Gruppierungen kontrollierten die Stadt Sindschar 15 Monate lang. Im November 2017 wurde sie schliesslich zurückerobert.

Der Konflikt hat sich zwar entspannt, doch die Notsituation hält weiterhin an. Laut Angaben des Büros der Vereinten Nationen zur Koordinierung der humanitären Hilfe (OCHA) beläuft sich die Zahl der intern Vertriebenen im Irak noch immer auf 1,8 Millionen. Mehr als die Hälfte davon leben schon seit drei oder mehr Jahren als Binnenvertriebene im eigenen Land.**

Die  irakische Gesellschaft wurde auf allen Ebenen von den Konfliktjahren geprägt. Der Wirtschaft hat die Krise schwer zugesetzt. Gemeinschaften wurden beschädigt oder komplett zerstört. Häuser liegen in Trümmern, genauso Schulen und Spitäler. Die Wasserversorgung und die elektrische Infrastruktur sind zusammengebrochen. Viele Menschen sind vollständig auf internationale humanitäre Unterstützung angewiesen, um Zugang zu Basisdiensten zu erhalten (z.B. medizinischer Grundversorgung).

Seit dem Angriff auf die Jesiden sind nun fünf Jahre vergangen. Doch geheilt sind die körperlichen und seelischen Wunden der Betroffenen noch lange nicht. Bereits vor der Massenvertreibung ins Sindschar-Gebirge sahen jesidische Familien sich mit grossen Herausforderungen konfrontiert. Vor, während und nach der Flucht waren sie schwerem emotionalem Stress ausgesetzt. Eine psychosoziale Therapie – individuell oder in der Gruppe, gibt ihnen Gelegenheit die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten.

«Solange die Krise in vollem Gange war, realisierten die Menschen nicht, wie sich das Erlebte auf ihre Psyche auswirkte. Erst nachdem sich ihr Alltag etwas stabilisierte, wurde ihnen klar, dass etwas nicht stimmt», erklärt Afrah. «Alle in unserer Gemeinschaft haben auf irgendeine Weise Traumata erfahren; und jeder von uns braucht Unterstützung. Medair hilft von Krisen betroffenen Menschen, sich zu erholen und ein neues Leben aufzubauen», fasst sie zusammen.

Psychosoziale Mitarbeitende wie Afrah leiten bei Medair sechswöchige interaktive Therapieprogramme, bei denen Betroffene zusammenkommen, um gemeinsam schwere Verluste und Trauer zu bewältigen und mit Depression, Ängsten und Stress umzugehen. Auch erfahren sie, wie sie auf ihre Nächsten und deren Gefühle eingehen können und erlernen Entspannungstechniken. Die Sitzungen bieten einen sicheren Rahmen, um schmerzhafte Erfahrungen auszutauschen und stärken so den Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft.

Jalila, 24, stammt aus der Stadt Sindschar. Nach den schrecklichen Ereignissen vom 3. August 2014 geriet das Leben ihrer Familie völlig aus den Fugen: Zwölf ihrer Verwandten wurden an der Front getötet, 30 gelten bis heute als vermisst. Nur sechs überlebten. Jalila und ihre Familie flohen durch die Nacht und bahnten sich einen Weg durch tiefe Felsspalten. Hinter ihnen ertönten immer wieder Schüsse. Sie rannten und rannten, bis sie sicher waren, dass sie die bewaffneten Gruppen abgehängt hatten.

Seit einiger Zeit ist Jalila bei einer lokalen Hilfsorganisation als Sozialarbeiterin im Einsatz. Am 30. Juni 2019 nahmen sie und ihre Kollegen an einer ihrer letzten, von Afrah geführten Therapiesitzungen teil.

Zu den Sitzungen sagt Jalila: «Die Therapie hilft der gesamten Gemeinschaft – besonders den Jugendlichen. Als Angestellte einer NGO denken wir immer, wir bräuchten keine psychologische Unterstützung, aber das stimmt nicht. Jeder von uns braucht Hilfe, wirklich jeder – Familien, Kinder, Nothilfe-Mitarbeitende und alle Binnenvertriebenen, ganz egal, wo sich diese aufhalten. Jeder und jede von uns hat so viel durchgemacht.»

Die Geschichten von Jalila und Afrah beschreiben das Schicksal einer ganzen Gemeinschaft. Sie stehen für das unermessliche Leid, welches tausende Menschen aus dem Irak in den vergangenen fünf Jahren erfahren mussten. Auch wenn das Erlebte Vergangenheit ist, wirken die Traumata doch noch lange nach. Psychosoziale Therapiesitzungen bieten Menschen nach Konflikten eine wertvolle Stütze.

Afrah erklärt: «Wer eine Verletzung hat oder krank ist, lässt sich im Spital behandeln. Bei einer psychosozialen Therapie ist das nicht anders. Jemand, der seelische Wunden trägt, braucht Hilfe, damit diese heilen können. Bald ist der Angriff fünf Jahre her. Ich finde, der Jahrestag gibt Anlass dazu, das kollektive Trauma zu thematisieren. Die Leute werden sich an das erinnern, worüber wir in den Therapiesitzungen gesprochen haben und neue Kraft daraus ziehen können, wenn sie trauern.»

Heute schreiben wir den 3. August 2019. Der Angriff auf Sindschar ist fünf Jahre her. Und fünf Jahre sind es, in denen sich Medair für die Betroffenen dieser Krise einsetzt. Unsere Mitarbeitenden hören zu, bauen zerstörte Häuser wieder auf, stärken Gemeinschaften und reagieren damit auf die dringendsten Bedürfnisse der irakischen Bevölkerung.


* Genaue Zahlen stehen noch aus; dieses UNOCHA-Flash-Update wurde am 4. August 2014 veröffentlicht. Schätzungen zufolge befanden sich zwischen 35 000 und 50 000 Geflüchtete im Sindschar-Gebirge.

** OCHA | Humanitarian Response Plan 2019

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