Geschichten

Hilferufe aus einer zerstörten Stadt

Wie Menschen und Kleinunternehmen im Libanon fast ein Jahr nach der Explosion in Beirut überleben.

Fast ein Jahr nach der Katastrophe sind die Auswirkungen der verheerenden Explosion vom 4. August im Hafen von Beirut immer noch zu spüren. Unseres psychosoziales Unterstützungsteam in Beirut traf sich kürzlich mit der lokalen Bevölkerung. Um ein besseres Verständnis für die Bedürfnisse zu erlangen, sprachen sie gemeinsam über die Herausforderungen, mit denen die Menschen immer noch konfrontiert sind. Mit Erlaubnis der Beteiligten gewähren wir Ihnen einen Einblick.

Die Diskussionsgruppe trifft sich in der Assabil-Bibliothek nahe dem Explosionsort in Beirut.

Der gegenseitige Austausch beginnt unter Einhaltung der Abstandsregeln. Wir fragen nach den Auswirkungen der Explosion auf das tägliche Leben, denn wir möchten mehr über die Probleme der Menschen erfahren und ihnen ein Gefühl der Hoffnung geben.

 

Unsere Kollegin Tania, Mitarbeiterin unseres psychosozialen Betreuungsteams in Beirut, führt die Diskussionsthemen ein.

«Wir möchten in diesen Treffen mehr über die dringenden Bedürfnisse der von der Explosion im Beiruter Hafen betroffenen Gemeinschaft erfahren sowie die Auswirkungen der immer schlimmer werdenden Krise im Libanon», erklärt Tania. «Indem wir den Menschen zuhören, kann Medair die Unterstützung besser auf sie abstimmen.»

 

Der pensionierte Coiffeur Hatem, 65, spricht mit unserem für Unterkünfte zuständigen Mitarbeiter Maher über die Wiedereröffnung seines Salons.

«Aufgrund der Politik- und Wirtschaftskrise sowie den Folgen der Explosion im Beiruter Hafen und der Covid-19-Pandemie können ältere Menschen wie ich nicht zu Hause ihren Ruhestand geniessen», sagt Hatem. «Über 50 Jahre lang war ich als Coiffeur tätig. Vor ein paar Jahren habe ich meinen Coiffeursalon geschlossen und mich zur Ruhe gesetzt. Die aktuelle Situation ist so schwierig, dass ich mein Geschäft wiedereröffnen und bei null anfangen musste. Kann man sich das vorstellen? Wir sind hier, um von unseren Problemen zu erzählen. Es geht ums pure Überleben.»

 

Mohammad, 55, ist Besitzer einer kleinen Reifenwerkstatt in der Nähe des Explosionsortes. Ihm fehlt vor allem das Geld für die Produkte, die er an seine Kundschaft weiterverkauft.

Mohammad sagt: «Wir sind hier, um über die Probleme von Unternehmen zu sprechen. Als Kleinunternehmen hoffen wir auf etwas Unterstützung, um uns über Wasser zu halten. Angesichts steigender Preise und der starken Abwertung des libanesischen Pfund lässt sich die Kundschaft kaum halten. Wir kaufen und verkaufen zu überhöhten Preisen und machen, wenn überhaupt, nur sehr wenig Gewinn.»

 

Adel, 56, führt ein kleines Lebensmittelgeschäft im Stadtteil Bachoura, unweit des Explosionsortes in Beirut.

«Schon vor der Explosion standen wir aufgrund der allgemeinen Krise im Libanon und der Covid-19-Pandemie kurz vor dem aus», erklärt Adel. «Danach ist die Lage vollständig aus dem Ruder gelaufen. Das grösste Problem für mich sind die Preissteigerungen durch den Zusammenbruch der Währung. Ich arbeite zwar mehr, habe aber weniger für meine Familie übrig.»

«Wir konnten heute als vereinte Gemeinschaft über die Herausforderungen sprechen, mit denen wir besonders nach der Explosion in unserem Alltag konfrontiert sind», fügt er hinzu.

 

Aida, 56, hat sich mit ihrer Nachbarin Ahram der Diskussionsgruppe angeschossen.

«Mein verstorbener Mann, Gott hab ihn selig, hat mir in unseren jungen Jahren regelmässig Goldschmuck geschenkt», erinnert sie sich. «Ich habe ihn immer aufbewahrt. Doch mit dem wirtschaftlichen Abschwung im Libanon muss ich jedes einzelne Stück verkaufen, um meine Rente und mein Essen zu bezahlen.»

«Wir sind auf uns alleine gestellt, Hilfe ist nicht in Sicht. Wir müssen unbedingt umsetzen, was heute besprochen wurde. Keiner kümmert sich mehr um den Libanon. Man hat uns alles genommen und nichts gelassen.»

 

Lesen Sie weiter über unsere Unterstützung für libanesische und geflüchtete syrische Familien im Libanon.


Die Arbeit von Medair im Libanon wird durch die Unterstützung des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, der Glückskette, der Medicor Foundation, des Madad-Fonds der Europäischen Union, von Global Affairs Canada in Zusammenarbeit mit Tearfund Canada und grosszügige/r private/r Spenderinnen und Spender ermöglicht.

Die Inhalte dieses Artikels stammen von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten sowie am internationalen Hauptsitz. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

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