Geschichten

Es war die Angst, die mich am Leben erhielt

Eine nach der anderen berichteten die Frauen von ihren Erfahrungen, von ihrer Stadt vor Ausbruch der Krise, von ihren Familien und davon, was sie sich für die Zukunft wünschten.

Am 3. August 2014 umzingelten bewaffnete Kämpfer ihre Stadt und den gesamten Bezirk Sinjar. Viele wurden von der Gewalt völlig überrascht, und unzählige Familien flohen Hals über Kopf aus ihren Häusern. Menschen rannten in alle Richtungen davon, auf den Strassen wimmelte es von überfüllten Autos – alle machten sich auf den Weg ins Sinjar-Gebirge.

«Mit dem Auto erreichten wir das Vorgebirge, danach ging es zu Fuss weiter», berichtet Aishan. «Viele Fahrzeuge wurden entlang der Serpentinenstrassen, die zur Bergspitze führten, stehengelassen. Sie versperrten den Weg und so mussten auch wir unser Auto zurücklassen. Vom vielen Laufen schwollen unsere Füsse an. Acht Tage lang harrten wir auf dem Berg aus, ohne Essen und ohne Dach über dem Kopf.» Aishan und Gaware zeigten uns, wie sie mit ihren Schals Wasser gefiltert hatten, um die kleinen roten Würmer, die sie in ihrer einzigen Wasserflaschen vorfanden, herauszufiltern. Sie sassen fest. Bewaffnete Kämpfer hatten den Berg umzingelt. «Der Berg Sinjar hat uns und vielen Jesiden das Leben gerettet. Im Schutze dieses Berges haben wir überlebt», so Sara.

Nach acht Tagen war endlich ein humanitärer Korridor errichtet, den Aishan, Gaware und Sara mit ihren Familien nutzen, um nach Syrien zu fliehen. Zu Fuss liefen sie in den Norden, bis sie irgendwann in eine sicherere Region im Nordirak zurückkehren konnten. «Ich bin alt und habe viel gelitten. Ich war durstig, hungrig und konnte schon lange nicht mehr richtig laufen. Eigentlich war ich körperlich nicht in der Lage zu fliehen – aber die Angst trieb uns immer weiter», erinnerte sich Sara.

Aldo war von der beschwerlichen Reise sehr geschwächt und blieb auf dem Berg Sinjar zurück. Die 67-Jährige ist schwerhörig. Während unseres Gesprächs fragte sie immer wieder nach, und auch wenn unser Dolmetscher Riad sich bemühte, lauter zu sprechen, wiederholte sie: «Was hat er gesagt?» Also sprach Aishan laut in ihr Ohr. Das half: Aldo begann, uns von ihrer Fluchterfahrung zu berichten. Sie schilderte, wie es war, als sie im Gebirge fiel und Fremde ihr aufhalfen und sie in Sicherheit begleiteten. Sie erzählte von dem Soldaten, der ihr auf dem Berg sein Essen schenkte und ihr damit neue Hoffnung gab. Doch gesundheitlich ging es ihr nicht gut: Als sie im Nordirak ankam, wurde sie wegen Unterernährung umgehend ins Spital eingeliefert.Nach der Krise im Jahr 2014 konnten Aishan, Gaware, Aldo und Sara in ihre Heimat zurückkehren – eine kleine Stadt, die früher für ihre üppigen Felder und die vielen Olivenbäume bekannt war. Nichts ist mehr, wie es war: Bewaffneten Milizen hatten bei der Eroberung der Stadt die Haine in Brand gesteckt. Die Olivenbäume erinnern heute – verkohlten Mahnmälern gleich – an den einen Tag, der das Leben der Frauen für immer veränderte.

Geflüchtete, die nach und nach in ihre Häuser im Irak zurückkehren, finden oft nur noch einen Trümmerhaufen vor. Die bewaffneten Gruppen haben in ihren Dörfern grosse Schäden angerichtet. Grundlegende Infrastrukturen und Dienstleistungen wie Strom, Wasser, Schulen und medizinische Einrichtungen fehlen. Auch ihre früheren Lebensgrundlagen sind zerstört: Das zurückgelassene Vieh wurde von anderen übernommen, Hab und Gut in ihrer Abwesenheit geplündert oder verbrannt.

Wo Märkte zugänglich sind, stellen Geldleistungen eine grosse Hilfe für Notleidende dar. Damit können sie ihre Grundbedürfnisse decken und eigenständig und in Würde darüber entscheiden, was sie gerade am dringendsten benötigen. Jeder Haushalt erhält eine mobile SIM-Karte und wird per SMS benachrichtigt, wenn das Geld an den von unserem Partnerunternehmen betriebenen Standorten abholbereit ist.

Die Bargeldhilfe kommt in der Regel von Frauen geführten Familien oder Haushalten zugute, in denen Menschen mit erheblichen gesundheitlichen Problemen oder Behinderungen leben. In der Gemeinschaft, die wir an jenem Tag besuchten, waren viele Menschen vor der Krise Bauern oder Schafhirten gewesen. 

Gaware erklärte uns im Gespräch: «Die Menschen hier sind in grosser Not. Deshalb möchten wir euch im Namen der gesamten Gemeinschaft von unseren Erfahrungen und Bedürfnissen berichten. Das Leben soll wieder werden, wie es früher war, und die Menschen sollen sich sicher fühlen. Wir wollen unsere Würde zurück.» Aldo schloss sich ihr an: «Wir wollen wieder friedlich zusammenleben. Vor der Krise waren etwa 100 Familien in diesem Gebiet zuhause. Doch bisher sind nur 30 von ihnen zurückgekehrt.»

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