Geschichten

Erinnerungen an die Syrien-Krise: Geschichten von Angst und Stärke

«Mein Hochzeitstag, war der Tag, ab dem die Dinge in Aleppo bergab gingen. In der Gegend, in der die Hochzeit stattfand, wurde plötzlich geschossen. Wir haben die Feier sofort abgebrochen.»

Rami ist in Aleppo aufgewachsen und hat vor etwa vier Jahren als Gebietsleiter bei Medair angefangen.

Genau wie Rami können alle von unserem Team in Syrien mindestens ein traumatisches Ereignis nennen, das sie nie vergessen werden, auch wenn es Jahre zurückliegt.

Die Krise in Syrien hat jeden getroffen. Alle haben etwas oder einen Menschen verloren. Niemand wurde verschont. In vielen Haushalten in Deir-ez-Zor findet sich heute eine Grossmutter, die sich um mehr als fünf Kinder kümmert, einen Teenager, der anstatt seines verschollenen Vaters für seine Mutter und Geschwister aufkommt, oder sieben Familien, die in einem einzigen Raum leben. In Aleppo und jedem anderen Bezirk kümmert sich eine Mutter um zwei behinderte Teenager, oder ein arbeitsloser Vater um kranke Kinder.

Die wirtschaftliche Situation lähmt die Menschen. Eingeschlossen Wasser werden  vieleGrundbedürfnisse nicht befriedigt. Laut einem im März 2021 veröffentlichten UN-Bericht leben inzwischen fast 90 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Dazu kommt die Erinnerung an die traumatischen Erlebnisse.

Trotzdem versuchen alle, so gut es geht weiterzuleben. Sie gehen zur Arbeit und meistern jeden Tag die Herausforderungen, so belastend sie auch sein mögen.

 

Ola arbeitet als Kassiererin bei Medair Syrien. Sie hat uns von einem ihrer Erlebnisse erzählt:  

«Ich wohne auf dem Land, in der Nähe von Damaskus. Um zur Uni zu kommen, musste ich damals eine Autobahn überqueren, die «Todesstrasse» genannt wurde. Dort waren Scharfschützen stationiert, die wahllos auf vorbeifahrende Autos schossen. Eines Tages fuhr ich dort mit dem Auto vorbei. Aus irgendeinem Grund drehte ich meinen Kopf nach rechts. In derselben Sekunde streifte eine Kugel meinen Hinterkopf und schlug hinten im Auto ein. Da wurde mir klar, dass ich das Ziel gewesen war. Der Scharfschütze hatte auf meinen Kopf gezielt.»

Ola erzählte uns die Geschichte, als wäre sie jemand anderem passiert. Die meisten Menschen reagieren so, wenn man sie nach dieser Zeit fragt – so, als wäre die Erinnerung nicht die ihre. Man hört die Geschichten und merkt, wie stark die Menschen in Syrien sind.

«Ich war völlig durcheinander. Plötzlich hörte ich Leute meinen Namen rufen. Ich stieg aus dem Wagen und schaute mir die Tür an. Da erkannte ich, wie entschlossen der Scharfschütze gewesen war, mich als zufälliges Ziel zu töten», sagte Ola.

Alle haben eine Geschichte. Jede ist anders, aber die Kernaussage ist gleich. Die Menschen haben über zehn Jahre ihres Lebens durch eine Krise verloren und sind täglich mit Tod und Verlust konfrontiert. Wir haben einige unserer Teammitglieder gefragt, was sie als humanitäre Helfer erreichen wollen, und was sie trotz des Erlebten antreibt. Hier sind einige ihrer Antworten:

«Nach der Syrienkrise gab es viele Hilfsprojekte und Aktivitäten für Menschen in Not. Ich wollte meine Fähigkeiten und Kenntnisse im Bereich des Managements für diese Projekte einsetzen zu können. Ich wusste, ich kann helfen», sagte Rami.

  

Alaa, unsere leitende Beauftragte für Monitoring und Evaluierung, erzählte uns, warum sie in der humanitären Hilfe arbeitet:

«Ich war einmal bei einem Einsatz dabei. Wir befanden uns damals in der Evaluationsphase. Ich bin in ein Haus hineingegangen. Man konnte sich nicht vorstellen, dass dort jemand wohnt. Eine Tür führte in ein kleines Zimmer. Dort lebte eine ältere Dame, ganz allein. Als sie mich sah, sagte sie: «Sie sind die erste, die mich besucht. Es reicht mir, wenn da draussen jemand weiss, dass ich noch lebe. Ihr Besuch ist genug.»»

«Das hat mich tief bewegt,» fährt Alaa fort. «Nach allem, was wir verloren haben, wollte ich nicht tatenlos zusehen, sondern diejenigen unterstützen, die meine Hilfe brauchen. Es ist schwer zu begreifen, dass etwas so Einfaches wie eine Decke der Traum eines anderen Menschen sein kann. Ich wusste, dass ich die den Menschen in meinem Land beizustehen kann. Das treibt mich weiter an», sagte Alaa.

Erst wenn man Syrien besucht, die Orte gesehen und mit den Menschen gesprochen hat, kennt man das Land. Deshalb hat unser Team vor Ort eine Botschaft für die Welt über das Land, in dem sie leben und das sie lieben.

 

Safwan arbeitet bei uns im Bereich Personal und Verwaltung. «Jede Krise hat ihre Nachwirkungen», sagt er. «Ich erinnere mich, wie überall Patronenhülsen lagen, an die Gefahr, wenn wir morgens zur Arbeit gingen und nicht wussten, ob wir wieder nach Hause zurückkehren würden. Es war eine schwere Zeit. Aber ich bin in Syrien geboren und werde in Syrien sterben. Wir werden dieses Land gemeinsam wieder so aufzubauen, wie es früher war.»

Die Formulierungen unser Teammitglieder mögen unterschiedlich sein, die Botschaft bleibt dieselbe: Syrien braucht unsere Hilfe. Die Menschen geben ihr Bestes, um die täglichen Herausforderungen zu meistern. Medair ist seit 2015 in Syrien im Einsatz und in Bereichen wie Gesundheit, Wasser und Sanitär sowie Unterkünfte tätig. Wir verteilen Artikel des täglichen Bedarfs an Vertriebene und Rückkehrende, sowie Hilfsmittel für Menschen mit eingeschränkter Mobilität.

Sie können die Arbeit von Medair in Syrien hier unterstützen.


Die Arbeit von Medair in Syrien wird durch den Katastrophenschutz und die humanitäre Hilfe der Europäischen Kommission, die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, die Glückskette, SlovakAid und grosszügige private Spenden ermöglicht.

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.

 

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