Geschichten

Eindrücke aus dem Einsatzgebiet

Vor meinen Augen breiten sich zahlreiche Zeltgruppen aus. Es gibt rund 6000 solcher informellen Siedlungen, die rund 300 000 Menschen beherbergen. Insgesamt leben im kleinen Libanon mehr als 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge.

Ich gönne mir einen kurzen Moment zum Durchatmen. Nach wochenlangen, ununterbrochenen Vorbereitungsmassnahmen brauche ich diese Pause. Unsere Teams sind hier, um einer möglichen Ausbreitung des Corona-Virus entgegenzuwirken – doch wir stehen erst ganz am Anfang. Bisher wurden im Land 267 bestätigte Fälle gemeldet. Das Gesundheitssystem war schon vor Ausbruch der Pandemie überlastet, und Tausende Menschen harren in überfüllten Unterkünften aus. Nicht auszumalen, welche katastrophalen Folgen ein schwerer Krankheitsausbruch hier haben würde.

Anna Chilvers, Projekt-Koordinatorin im Libanon
Ich koordiniere das Hilfsprojekt von Medair im Bekaa-Tal und leite ein 70-köpfiges Team. Wir versorgen syrische Flüchtlinge und bedürftige Libanesen mit medizinischen Leistungen und unterstützen sie im Bereich Unterkünfte. Das Kartieren von Zeltsiedlungen ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit, denn wir können Notleidende erst mit Hilfe versorgen, wenn wir ihren genauen Standort kennen. Während regelmässigen Risikomanagement-Sitzungen stellen wir sicher, dass unsere Mitarbeitenden ausreichend geschützt sind und stimmen unsere Massnahmen auf die sich stetig entwickelnde Notlage ab. In den vergangenen Wochen haben wir die notwendigen Hygieneprotokolle implementiert und wichtige Ausrüstung wie Schutzmasken und Gummihandschuhe beschafft. Mit dem Nothilfeeinsatz haben wir bereits begonnen – in enger Zusammenarbeit mit anderen Hilfsorganisationen.

Vor einigen Tagen beschlossen wir, mehrheitlich im Home-Office zu arbeiten und nur in kritischen Fällen physisch vor Ort zu sein. Nur wenige Stunden nach dieser Entscheidung fegte ein Sturm durch das Bekaa-Tal. Rund 200 Telefonate gingen in der Folge bei uns ein von Menschen, deren Unterkünfte zerstört oder unter Wasser gesetzt worden waren. Sechs unserer Mitarbeitenden beurteilten daraufhin die Sturmschäden, verteilten Baumaterial und halfen betroffenen Familien dabei, ihre Unterkünfte wiederaufzubauen. Nach wie vor unterstützen wir lokale Spitäler – denn erkrankte Menschen müssen weiterhin medizinisch behandelt und Schwangere während der Geburt professionell betreut werden.

Die Angst und Panik, die COVID-19 begleiten, sind teilweise ansteckender als das Virus an sich. Gerüchte und Fehlinformationen verbreiten sich rasch. Inmitten dieser Stimmen, versuchen wir als Team für Mitarbeitende und Hilfeempfänger eine verlässliche Stütze und Informationsquelle zu sein. Die Worte Jesu aus Matthäus 6,34 haben dabei für mich eine neue Bedeutung gewonnen: «Deshalb sorgt euch nicht um morgen – der nächste Tag wird für sich selber sorgen.» Früher empfand ich den Bibelvers als entmutigend – heute sehe ich darin eine befreiende Botschaft; Er handelt davon, sich keine Sorgen um Aufgaben zu machen, die nicht unmittelbar bevorstehen, sondern sich vielmehr mit Mut und Kraft den heutigen Problemen anzunehmen und darin stets unser Bestes zu geben. Alles andere ist in Gottes Hand.

In unserem Team sind wir vier «Expats», also internationale Einsatzkräfte. Wir haben uns dafür entschieden, hier zu bleiben und bis zum Schluss unser Bestes zu geben. Dass wir unsere Familien womöglich monatelang nicht sehen werden, ist uns bewusst. Auch, dass wir uns mit dem Coronavirus anstecken oder unsere Liebsten während unserer Abwesenheit schwer erkranken könnten, wissen wir. Dennoch stehen wir voll hinter dieser Entscheidung.

Zwischen den Koordinationssitzungen und Arbeitsbesprechungen führen wir mit jedem unserer Mitarbeitenden ein persönliches Gespräch. Wir fragen sie einzeln nach ihrer Bereitschaft und ihren Möglichkeiten, sich für Corona-Infizierte zu engagieren. Aufgaben wie die Überwachung von Menschen auf einer Isolierstation oder der Patiententransport bergen höhere Risiken. Andere Tätigkeiten können hingegen relativ bedenkenlos ausgeführt werden, zum Beispiel die Datenerfassung oder die Betreuung der Telefonhotline. Einige unserer lokalen Mitarbeitenden kümmern sich um ältere Verwandte oder berichten von eigenen gesundheitlichen Beschwerden. Dennoch betonen viele von ihnen wiederholt: «Wir tun alles, was getan werden muss.» Diese Gespräche inspirieren mich sehr. Eine Mitarbeiterin brachte es auf den Punkt: «Wir sind doch Gesundheitsfachkräfte. Wenn wir nicht helfen – wer dann?»


Syrische Flüchtlingskinder, die wir während unseres Nothilfeeinsatzes im November 2018 kennenlernten.

Uns allen ist die grosse Bedeutung unserer Arbeit in der aktuellen Situation bewusst. Wir sehen es als Auftrag Gottes an, hier zu sein und zu helfen. So endete unsere letzte Teamsitzung mit folgenden Worten: «Wir sind humanitäre Mitarbeitende. Unser Ziel ist es, menschliches Leid zu lindern und Leben zu retten. Auch wenn die Herausforderungen in den nächsten Monaten besonders gross sein mögen – unser Ziel bleibt dasselbe. Ich bin stolz auf die Medair-Teams.» Und das bin ich wirklich.

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