Ich gönne mir einen kurzen Moment zum Durchatmen. Nach wochenlangen, ununterbrochenen Vorbereitungsmassnahmen brauche ich diese Pause. Unsere Teams sind hier, um einer möglichen Ausbreitung des Corona-Virus entgegenzuwirken – doch wir stehen erst ganz am Anfang. Bisher wurden im Land 267 bestätigte Fälle gemeldet. Das Gesundheitssystem war schon vor Ausbruch der Pandemie überlastet, und Tausende Menschen harren in überfüllten Unterkünften aus. Nicht auszumalen, welche katastrophalen Folgen ein schwerer Krankheitsausbruch hier haben würde.
Vor einigen Tagen beschlossen wir, mehrheitlich im Home-Office zu arbeiten und nur in kritischen Fällen physisch vor Ort zu sein. Nur wenige Stunden nach dieser Entscheidung fegte ein Sturm durch das Bekaa-Tal. Rund 200 Telefonate gingen in der Folge bei uns ein von Menschen, deren Unterkünfte zerstört oder unter Wasser gesetzt worden waren. Sechs unserer Mitarbeitenden beurteilten daraufhin die Sturmschäden, verteilten Baumaterial und halfen betroffenen Familien dabei, ihre Unterkünfte wiederaufzubauen. Nach wie vor unterstützen wir lokale Spitäler – denn erkrankte Menschen müssen weiterhin medizinisch behandelt und Schwangere während der Geburt professionell betreut werden.
In unserem Team sind wir vier «Expats», also internationale Einsatzkräfte. Wir haben uns dafür entschieden, hier zu bleiben und bis zum Schluss unser Bestes zu geben. Dass wir unsere Familien womöglich monatelang nicht sehen werden, ist uns bewusst. Auch, dass wir uns mit dem Coronavirus anstecken oder unsere Liebsten während unserer Abwesenheit schwer erkranken könnten, wissen wir. Dennoch stehen wir voll hinter dieser Entscheidung.
Zwischen den Koordinationssitzungen und Arbeitsbesprechungen führen wir mit jedem unserer Mitarbeitenden ein persönliches Gespräch. Wir fragen sie einzeln nach ihrer Bereitschaft und ihren Möglichkeiten, sich für Corona-Infizierte zu engagieren. Aufgaben wie die Überwachung von Menschen auf einer Isolierstation oder der Patiententransport bergen höhere Risiken. Andere Tätigkeiten können hingegen relativ bedenkenlos ausgeführt werden, zum Beispiel die Datenerfassung oder die Betreuung der Telefonhotline. Einige unserer lokalen Mitarbeitenden kümmern sich um ältere Verwandte oder berichten von eigenen gesundheitlichen Beschwerden. Dennoch betonen viele von ihnen wiederholt: «Wir tun alles, was getan werden muss.» Diese Gespräche inspirieren mich sehr. Eine Mitarbeiterin brachte es auf den Punkt: «Wir sind doch Gesundheitsfachkräfte. Wenn wir nicht helfen – wer dann?»
Syrische Flüchtlingskinder, die wir während unseres Nothilfeeinsatzes im November 2018 kennenlernten.
Uns allen ist die grosse Bedeutung unserer Arbeit in der aktuellen Situation bewusst. Wir sehen es als Auftrag Gottes an, hier zu sein und zu helfen. So endete unsere letzte Teamsitzung mit folgenden Worten: «Wir sind humanitäre Mitarbeitende. Unser Ziel ist es, menschliches Leid zu lindern und Leben zu retten. Auch wenn die Herausforderungen in den nächsten Monaten besonders gross sein mögen – unser Ziel bleibt dasselbe. Ich bin stolz auf die Medair-Teams.» Und das bin ich wirklich.