Geschichten

Der innere Zustand

In den vergangenen Jahren musste die Bevölkerung eine Reihe von Katastrophen durchleben. Das Land ist nach wie vor gezeichnet von einer anhaltenden sozioökonomischen Krise, politischen Unruhen, sowie Brennstoff-, Strom- und Medikamentenknappheit – ganz zu schweigen von der Covid-19-Pandemie und der traumatischen Explosion im Hafen von Beirut. Die Krisen verstärken sich teilweise gegenseitig und stellen sowohl für die Geflüchteten als auch die libanesische Bevölkerung eine erhebliche psychische Belastung dar.  

Die psychische Gesundheit ist wesentlicher Teil unserer menschlichen Existenz und in jeder Lebensphase, von der Kindheit und Jugend bis zum Erwachsenenalter, wichtig. Die Psyche ist ein Spiegel unserer selbst und beeinflusst unser Fühlen, Denken und Handeln. Es ist eine innere Verfassung. In vielen Ländern ist psychische Gesundheit kein Tabuthema und wird weithin akzeptiert. Im Libanon ist das anders. Dort ist das Thema kulturell eher schambehaftet. Psychische Gesundheit jedoch ist unabdinglich für ein ganzheitlich gesundes Leben. Sie bestimmt unser emotionales, psychologisches und soziales Wohlbefinden.  

Die Menschen im Libanon haben schwere Traumata und Depressionen durchlebt, und ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Die anhaltenden Veränderungen und die allgemeine Verunsicherung haben der Bevölkerung stark zugesetzt. Ein normales und gesundes Leben ist unter solchen Umständen kaum möglich. Im gesamten Libanon nehmen psychische Probleme zu. Nach Angaben von Human Rights Watch hat sich die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, im vergangenen Jahr verdoppelt und die Zahl derer, die bereits in extremer Armut leben, verdreifacht. Fast 80 Prozent der libanesischen Bevölkerung leben heute unterhalb der Armutsgrenze. Etwa 36 Prozent leben in extremer Armut leben – dem gegenüber stehen 8 Prozent im Jahr 2019 (Human Rights Watch, 2022). Dies führt dazu, dass die Menschen sich Lebensmittel, Mieten, Medikamente und andere grundlegende Güter und Dienstleistungen nicht mehr leisten können. Die Menschen sind verzweifelt. Sie sind nicht mehr in der Lage, sich um ihre Familienmitglieder, geschweige denn sich selbst zu kümmern. Das belastet familiäre Beziehungen und Meldungen von Selbstverletzungen und Selbstmordversuchen nehmen zu.  

Female community member holding her down during a wellness discussion in a room.

Narmine, 27 Jahre alt, Syrerin, am 14. April 2022 in der sozialen Einrichtung in Qab Elias, Bekaa-Tal, tief in Gedanken versunken. ©Medair/Abdul Dennaoui

«Ich habe unser Land und alles, was wir je gekannt haben, hinter mir gelassen. Das Wort «Hoffnung» ist für mich ein Luxus, den ich nicht kenne. In mir hat sich so viel Wut angestaut ich habe nie gelernt, mit all den Gefühlen umzugehen. Es brodelt in meinem Inneren und ich explodiere fast. Jeden Morgen wache ich mit einer Last auf meinen Schultern auf. Wir leben nicht, wir kämpfen ums Überleben», sagt Narmine, ein 27-jähriges Mitglied der syrischen Gemeinschaft und Teilnehmerin in der von Medair unterstützten Selbsthilfegruppe im Qab Elias Social Development Centre im Bekaa-Tal. Narmine und ihre Familie sind 2015 vor dem Konflikt in Syrien geflohen. Seit einigen Wochen nimmt sie nun an den Selbsthilfegruppen teil und erzählt uns von den positiven Auswirkungen, die das auf ihre Psyche und ihre Lebenseinstellung im Allgemeinen hat. «Ich lerne immer mehr, mich zu beruhigen, wenn ich wütend bin, und meine Emotionen zu kontrollieren. Ich lerne neue Wege, meinen Ärger zu kanalisieren, und das gibt mir ein gutes Gefühl.» Die Gruppen richten sich an Erwachsene, Jugendliche und Kinder und sind auf deren unterschiedliche Bedürfnisse zugeschnitten. In den Selbsthilfegruppen werden unter anderem Themen wie Emotionen, Stress und die Verarbeitung von Gefühlen behandelt. Das psychische Wohlbefinden der Teilnehmenden wird verbessert. Die Auswirkungen von Covid-19 sowie das hohe Mass an Stress, das durch die sozioökonomischen Bedingungen verursacht wird, werden aufgefangen. Die Teilnehmenden bekommen Raum, um sich mitzuteilen und über ihre Erfahrungen zu sprechen.   

In den letzten zwei Jahren hat Medair mit finanzieller Unterstützung durch die EU (ECHO) die psychosoziale Unterstützung für vulnerable Bevölkerungsgruppen fortgesetzt, um den Bedürfnissen im Bereich der psychischen Gesundheit gerecht zu werden. 

Mental health professional leading a session with other female community members present.

Khouloud, Medair-Beauftragte für psychosoziale Unterstützung, schildert ihren ersten Eindruck von einem der Teilnehmenden während der Übung in Qab Elias im Bekaa-Tal am 14. April 2022. ©Medair/ Abdul Dennaoui

 

 


Die Arbeit von Medair im Bekaa-Tal, Libanon, wird von Global Affairs Canada in Zusammenarbeit mit Tearfund Canada, der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und der Europäischen Union gefördert.  

  

Dieser Artikel wurde von Mitarbeitenden von Medair in den Einsatzgebieten und am internationalen Hauptsitz verfasst. Die vertretenen Ansichten sind ausschliesslich die von Medair und in keiner Weise auf offizielle Positionen anderer Hilfsorganisationen übertragbar.  

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