Der Geschäftsführer bloggt: Wie ein südsudanesischer Anwalt seinem Land Hoffnung schenkt

Projektbesuch im Südsudan – und ein besonderes Wiedersehen nach 22 Jahren.

Projektbesuch im Südsudan – und ein besonderes Wiedersehen nach 22 Jahren.

Menschen sind das Herzstück der humanitären Hilfe. Davon bin ich fest überzeugt und es inspiriert mich sehr, mich mit unseren Hilfeempfängerinnen und Hilfeempfängern auszutauschen. Dass ich jedoch einen so tiefen Einblick in ein Menschenleben erhalte, geschieht nur ganz selten. Deshalb ist die Geschichte von Anuol für mich eine ganz besondere. Ich lernte den Jungen während meines allerersten Medair-Einsatzes im damaligen Süden des Sudans kennen. Zu der Zeit stand ich ganz am Anfang meiner humanitären Laufbahn. In meiner heutigen Funktion als Geschäftsführer von Medair erhielt ich vor kurzem die Gelegenheit, Anuol im Rahmen eines Projektbesuchs nach über 22 Jahren ein zweites Mal zu treffen. Es war ein freudiges Wiedersehen. Schon damals hatte mich das Kind sehr beeindruckt – unter anderem mit seinem grossen Lerneifer und seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.

Dass das Leben nicht gerecht ist, musste Anuol schon früh erfahren. Er wuchs mit seiner Familie in einer abgelegenen Region im südlichen Sudan auf. Als der Bürgerkrieg ausbrach, stürmten Soldaten sein Dorf. Vor seinen Augen töteten sie seine besten Freunde. Der Junge hatte Glück und entkam der Gewalt. Doch sein Alltag wurde zu einem einzigen Überlebenskampf. Ob es am Abend etwas zu essen geben würde, wusste die Familie nie. Und wenn jemand erkrankte, gab es keine medizinische Versorgung. Fünf enge Verwandte starben. Kurz darauf lancierte Medair ein Projekt in Anuols Dorf. Er erinnert sich heute noch genau daran: „Medair gab uns Hoffnung. Die Teammitglieder waren sehr freundlich und äusserst empathisch. Wir hatten das Gefühl, dass sie unsere Erfahrung genau nachvollziehen konnten, so als hätten sie dasselbe Trauma erlebt wie wir.“

Mitarbeitende von Medair waren vor vielen Jahren bereits in Anuols Dorf im Einsatz. 

Nach dem verheerenden Angriff auf ihr Dorf überreichte seine Mutter Anoul ein besonderes, symbolisches Geschenk. Einen Kugelschreiber. Bildung war ihr ausserordentlich wichtig, und sie wollte ihren Sohn unbedingt in die Schule schicken. Eine Mitarbeiterin von Medair bemerkte seinen grossen Wissensdrang und setzte sich abends zu ihm, um ihm Englisch und Mathematik beizubringen. Er war ein begabter Schüler. Doch die Sicherheitslage im Land wurde immer schlechter und er musste fliehen. Der Junge landete in einem Flüchtlingslager in Kenia. Aber auch dort waren Mitarbeitende von Medair vor Ort, die ihn unterstützen, sodass er die Schule in Kenia erfolgreich beenden konnte.

Sein Fleiss zahlte sich aus: Anuol schaffte es aufs Gymnasium und verliess sein Land wenig später, um in Grossbritannien Jura zu studieren. Dass er einmal Anwalt werden wollte, wusste er von Kindesbeinen an. Er träumte von einem fairen, zuverlässigen Rechtssystem in seinem Land – und wollte einen persönlichen Beitrag dazu zu leisten.

Anuol schliesst sein Jurastudium in Grossbritannien ab.

Ein vielversprechender beruflicher Werdegang stand dem intelligenten jungen Mann offen. Nach seinem Studium begann er, in England als Anwalt zu arbeiten; bald darauf wurde er an den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda in Den Haag berufen. Die Erfahrungen und das im Ausland gesammelte Wissen halfen ihm Jahre später, als er in seine Heimat zurückkehrte, sehr. Er hatte sich dafür entschieden, Menschen zu helfen, die nicht dieselben Möglichkeiten bekommen hatten wie er. Und denjenigen zu danken, die ihn all die Jahre unterstützt hatten.

Er gründete eine eigene Kanzlei und fing an, einheimische Anwältinnen und Anwälte auszubilden. Das tut er bis heute. Auch errichtete er eine Stiftung, die Schulbildung für Kinder ermöglicht. „Ich weiss aus eigener Erfahrung, was diese Kleinen durchmachen. Ich kenne ihr Leid und ihren Schmerz nur zu genau“, erzählt er mir. Seine Augen leuchten: „Durch Bildung können diese Kinder zu kleinen Botschaftern heranwachsen, die im Südsudan einen echten Wandel herbeiführen.“

Anuol und ich sind uns einig. Letztendlich geht es immer um Menschen. Er hätte auch den einfachen Weg wählen und sich für ein bequemes Leben in Europa entscheiden können. Doch er tat das Gegenteil. Er setzt seine ganze Kraft dafür ein, den Menschen in seinem Land eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Als humanitäre Helfer stellen wir Hilfsgüter und Leistungen bereit. Doch unsere Arbeit umfasst so viel mehr. Es geht darum, Menschen wieder auf die Beine zu helfen und ihnen in schwierigen Zeiten neue Hoffnung zu geben. Dabei ist es wichtig, in jeden einzelnen Menschen zu investieren. Die Geschichte von Anuol zeigt, welch grosse Bedeutung ein einzelner kleiner Junge für seine gesamte Gemeinschaft haben kann.

Das Lebensmotto von Anuol lautet: „Lebe einfach, setz dir hohe Ziele, glaube an Gott und bewahre die Hoffnung für die Zukunft“. Ein schöner Leitsatz, mit dem ich mich als Geschäftsführer von Medair zu hundert Prozent identifizieren kann

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