7 häufige Missverständnisse über humanitäre Hilfe

In meiner bisher 23-jährigen Laufbahn sind mir schon einige kritische Meinungen über die humanitäre Hilfe begegnet. Einige davon durchaus legitim, andere beruhen auf klaren Missverständnissen.

In meiner bisher 23-jährigen Laufbahn sind mir schon einige kritische Meinungen über die humanitäre Hilfe begegnet. Einige davon durchaus legitim, andere beruhen auf klaren Missverständnissen. Humanitäre Hilfe wird oft in konfliktreichen Gebieten geleistet; an Orten, wo Chaos und Anarchie herrschen. Weltweit sind so viele Menschen dringend auf Unterstützung angewiesen, dass die vorhandenen Ressourcen nicht annähernd ausreichen, um diesen Bedarf zu decken. Diese komplexen Zusammenhänge sind leider oft ein idealer Nährboden für Missverständnisse oder Halbwahrheiten. Deshalb möchte ich heute gerne auf die 7 häufigsten Missverständnisse über humanitäre Hilfe eingehen: 1. Alle Hilfsorganisationen tun dasselbe Die Tätigkeitsbereiche verschiedener NGOs weisen selbstverständlich Schnittstellen auf. Deshalb ist es besonders wichtig, dass sie Hand in Hand arbeiten und einander nicht als Konkurrenten sehen. Es gibt in der Tat wesentliche Unterschiede. Eine Organisation kann nicht in allen Disziplinen federführend oder in allen bedürftigen Region gleichzeitig aktiv sein. Während die eine NGO hauptsächlich medizinische Nothilfe leistet, hat sich die andere auf die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen spezialisiert. So können während Krisen Synergien genutzt, Bedarfslücken geschlossen und mehrere Bedürfnisse gedeckt werden. Eine hohe Anzahl Organisationen kann auch eine Stärke sein: Je mehr Akteure z. B. Expertise in katastrophensicherem Bauen haben, desto mehr Menschen kann beim Wiederaufbau ihrer zerstörten Häuser geholfen werden. Dabei ist eine gute Koordination  entscheidend. Strategische Partnerschaften sind zudem wichtig, um die Wirkung und Reichweite der Hilfe zu erhöhen und möglichst viele Menschen zu erreichen. 2. Humanitäre Hilfe wird in erster Linie von «Expats» geleistet Es gibt die weit verbreitete Meinung, dass humanitäre Arbeit grösstenteils von internationalen Mitarbeitenden, so genannten «Expats», geleistet wird. Das Gegenteil ist der Fall: Medair beschäftigt derzeit rund 1200 lokale Mitarbeitende aus unseren Projektländern. Nur 200 Mitarbeitende haben einen internationalen Hintergrund. Und auch unter den «Expats» haben wir Leute mit verschiedensten Nationalitäten und kulturellen Hintergründen. Einheimische Mitarbeitende sind unsere «First Responders» und somit das Herzstück unserer humanitären Arbeit. Sie sorgen dafür, dass Notleidende in ihrer Umgebung umgehend und effizient mit Hilfe versorgt werden. Auch sind sie Experten in Bezug auf die lokale Sprache und Kultur. So bilden sie eine wichtige Brücke zwischen Medair und ihren lokalen Gemeinschaften. Wenn das Medair-Projekt in ihrem Dorf beendet ist, bleiben sie mitsamt ihrem Wissen und ihren erlernten Fähigkeiten vor Ort, was sich nachhaltig auf den Erfolg unserer Hilfsaktivitäten auswirkt. 3. Hilfsorganisationen mit christlichem Hintergrund können nicht neutral sein Dass NGOs, mit christlichem Hintergrund, nicht neutral Hilfe leisten können oder sogar Missionierungsarbeit leisten würden, ist ein häufiges Missverständnis. Die Unterzeichung des Verhaltenskodex des Internationalen Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds (IKRK) definiert allgemein anerkannte Grundsätze in der humanitären Hilfe, zu denen sich Medair ebenfalls verpflichtet hat. Der Kodex verbietet zum Beispiel jede Form der religiösen Diskriminierung. Das heisst: Organisationen wie Medair, welche sich christlichen Grundwerten verpflichten und ihre Motivation aus dem christlichen Glauben beziehen handeln nach humanitären Prinzipien und leisten Hilfe für alle Menschen, unabhängig ihres religiösen Hintergrundes.   4. Hilfsorganisationen hinken der allgemeinen Entwicklung hinter her Wenn Leben auf dem Spiel stehen, gibt es keine Zeit zu verlieren. Humanitäre Hilfe ist immer mit einer gewissen Dringlichkeit verbunden. Manchmal kommt dadurch die Möglichkeit, Verbesserungspotenzial auszuschöpfen, zu kurz. Innovation rückt in letzter Zeit bei vielen NGOs jedoch stärker in den Fokus. An der ersten globalen humanitären Konferenz in Istanbul im Jahr 2016 stand Innovation als eines der Haupttraktanden auf dem Programm. Auch bei Medair investieren wir viel Zeit und Ressourcen in die Entwicklung innovativer Ansätze, um noch mehr Hilfsbedürftige an abgelegenen Orten zu erreichen. 5. Humanitäre Hilfe ist nicht effizient genug, um die grossen Probleme zu lösen Nothilfe allein vermag komplexe humanitäre Krisen nicht zu lösen. Sogar Organisationen, die sich spezifisch für Menschenrechte engagieren und versuchen, Einfluss auf die politische Agenda zu nehmen, schaffen es oft nicht, die Gewalt- und Armutsspirale zu durchbrechen. Bis der politische Wille und die Bereitschaft auf nationaler sowie internationaler Ebene zur Bekämpfung der Ursachen von humanitären Krisen vorhanden sind, vergeht oft viel Zeit. Das bedeutet nicht, dass humanitäre Hilfe nur ein Pflaster auf die Wunde oder ein Tropfen auf den heissen Stein ist. Hilfsorganisationen sind dazu da, die Bedarfslücken zu schliessen, durch Katastrophen verursachtes Leid zu mildern und Leben zu retten. Zudem helfen sie gefährdeten Bevölkerungsgruppen die Anfälligkeit auf Krisen zu reduzieren und deren Widerstandsfähigkeit zu erhöhen. NGOs allein schaffen es zwar nicht, humanitäre Krisen aus der Welt zu schaffen. Aber sie schenken notleidenden Menschen Hoffnung – und signalisieren ihnen, dass sie während schwierigen Zeiten nicht alleine sind. 6. Hilfsorganisationen gehen nicht verantwortungsvoll mit Spenden um «Wo ist das Geld geblieben?» Diese Frage taucht oft dann auf, wenn der Erfolg eines Projekts nicht auf Anhieb sichtbar ist. Korruption und Betrug finden sich in Einzelfällen auch in der humanitären Hilfe und sind absolut inakzeptabel. Dies ist schwer zu ertragen, denn dadurch bleibt ein Teil der finanziellen Mittel notleidenden Menschen verwehrt. Was dabei oft nicht berücksichtigt wird: Notlagen verursachen immer grosses Chaos und schwächen staatliche Systeme, die folglich anfälliger werden für Missbrauch und Betrug. Die meisten Hilfsorganisationen haben effektive Massnahmen, um Betrugsrisiken zu minimieren. Bei Medair gibt es einen Ethikkodex, um beispielsweise finanziellem Betrug oder Korruption mit klar definierten Prozessen vorzubeugen. Es ist ein wirkungsvolles Reporting-System, bei dem interne Hinweisgeber («Whistleblower») geschützt, Geheimhaltung gewahrt und umgehende Folgemassnahmen eingeleitet werden. Korruption ist selbstverständlich ein unschönes Thema. Umso wichtiger ist es, offen darüber zu diskutieren und über Erfahrungen und Best Practises auszutauschen. Wenn sich die humanitäre Gemeinschaft dieser Herausforderung stellt, stehen die Chancen sehr gut, um Korruption und Betrug wirksam zu bekämpfen. Dabei ist Transparenz im Umgang mit den anvertrauten Spendengeldern ein Schlüssel, um Vertrauen zu schaffen. 7. Medien und Politik bestimmen, wer Hilfe bekommt – und wer nicht Weltweit benötigen immer mehr Menschen humanitäre Unterstützung. Das erhöht den Druck auf die Hilfsorganisationen: Sie sollen möglichst viele Notleidende mit möglichst wenig finanziellen Mitteln erreichen. Zu bestimmen, wer wie viel finanzielle Mittel erhalten soll, ist für NGOs und Geldgeber gleichermassen eine enormeHerausforderung. Die Prioritäten staatlicher Geldgeber und die Medienberichterstattung beeinflussen die Höhe der finanziellen Mittel, die für die Bekämpfung unterschiedlicher Krisen bereitgestellt werden. Diese These stimmt – und ist dennoch nur die halbe Wahrheit. Viele institutionelle Finanzierungpartner, unter anderem das Europäische Amt für humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz (ECHO), stellen spezielle Fonds für so genannte «vernachlässigte Krisen» oder Notlagen bereit, über die medial kaum berichtet wird. Dies ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung – und eine gute Möglichkeit, noch mehr Notleidende in entlegenen, isolierten Regionen mit Hilfe zu erreichen. Auch Medair engagiert sich seit vielen Jahren für Menschen, die in «vergessenen» Krisengebieten auf Hilfe warten. Eine solcher Ansatz erfordert jedoch eine besonders flexible Finanzierung. Deshalb zählen wir zu einem grossen Teil auch auf unsere treuen privaten Spenderinnen und Spender. Unabhängig von staatlichen Mitteln erlauben individuelle Geldgeber uns, schnell und unbürokratisch auf die dringendsten Bedürfnisse weltweit zu reagieren – und letztendlich mehr Menschenleben zu retten.   Mehr von Medair-Geschäftsführer David Verboom: Syrienkrise: Auch psychische Wunden müssen heilen

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