6 Monate nach der Katastrophe in Indonesien: «Das Erdbeben hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Aber wir geben nicht auf.»

Frilly stammt aus Palu – einer Stadt in Indonesien, die vom Erdbeben und dem Tsunami 2018 besonders hart getroffen wurde.

Frilly stammt aus Palu – einer Stadt in Indonesien, die vom Erdbeben und dem Tsunami 2018 besonders hart getroffen wurde. Die 21-Jährige arbeitet als Dolmetscherin für Medair und unsere lokalen Partner in Zentral-Sulawesi. Dadurch hat sie regelmässig Kontakt zu Betroffenen, die ihr ihre Geschichten anvertrauen. Im Gespräch mit Medair-Mitarbeiterin Paola Barioli blickt Frilly zurück auf die vergangenen sechs Monate.

Kannst du uns vom Erdbeben in Palu erzählen? Was passierte an diesem Tag?

Als es losging, war ich gerade bei der Arbeit. Ich war damals in einem kleinen Unternehmen angestellt. Zuerst dachte ich, es wäre ein schwaches, harmloses Beben. Die gibt es in Palu öfter. Doch schon nach zwei bis drei Sekunden spürte ich: Dieses Erdbeben ist anders. Viel stärker.

Auf einmal gingen alle Lichter aus. Panisch suchte ich nach einem Fluchtweg, aber die Erschütterungen waren so stark, dass ich mich festhalten musste. Ich konnte nicht rennen, konnte nicht fliehen. Der Boden bebte unter meinen Füssen. Plötzlich lag ich am Boden, mein Kopf knallte auf den harten Beton.

Ein besonders zerstörerisches Naturphänomen ist die Bodenverflüssigung: Während eines Bebens wird Erde, die normalerweise fest ist, dermassen aufgelockert, dass sie sich verflüssigt und unter Umständen ganze Dörfer unter sich begräbt.

Irgendwie schaffte ich es dann trotzdem, das Gebäude zu verlassen. Als ich endlich nach draussen gelangte, stockte mir der Atem. Was ich sah, war schrecklich. Ein grosses Chaos. Menschen schrien und rannten durcheinander. Ich rannte mit. Die Wunde an meinem Kopf musste behandelt werden und ich eilte ins Spital. Dort angekommen, wurde mir das Ausmass der Katstrophe erst richtig bewusst. Überall lagen Leichen. Es war im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle. Alle waren wir verwirrt und besorgt über den Aufenthaltsort unserer Familien. Noch nie hatte ich so etwas Schreckliches erlebt.

Aber diese allgemeine Verzweiflung hatte, so seltsam es klingen mag, auch eine schöne Seite: In der Not fingen wir alle an, einander zu helfen. Auch, wenn wir uns völlig fremd waren. Wenn ich daran zurückdenke, wird mir richtig warm ums Herz. Sogar in den widrigsten Umständen sind wir Menschen dazu in der Lage, füreinander da zu sein. Es waren harte, aber sehr besondere Momente.

Inwiefern hat die Katastrophe den Alltag der Menschen aus Palu beeinflusst?

Das Beben hat das Leben der Menschen komplett auf den Kopf gestellt. Vorher hatten wir einen ganz normalen Alltag. In unserer kleinen Stadt grüssten sich die Menschen, waren nett zueinander. Kinder gingen zur Schule, Erwachsene zur Arbeit. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Jeder Tag ist von so viel Unsicherheit geprägt.

Wie es mir persönlich nach der Katastrophe ging? Schlecht. Ich fühlte mich, als hätte ich meine gesamte Identität verloren. Nichts in meinem Leben war mehr so, wie ich es von früher kannte. Vielen Leuten ging es kurz nach der Katastrophe genauso, alle waren deprimiert, weil niemand wusste, wie es nach dem Beben weitergehen sollte.

 

Wie ist die Lage heute – sechs Monate nach der Katastrophe?

Wenn ich mit Menschen aus Palu und Umgebung spreche, stelle ich fest: Die Bedürfnisse haben sich verschoben. Es geht nicht mehr um primäre Bedürfnisse wie Nahrungsmittel, Unterkünfte und sauberes Trinkwasser. Betroffene denken jetzt mehr über ihre Zukunft nach und überlegen sich, wie sie wieder ein unabhängiges Leben führen können.

Ich denke jedoch nicht, dass alles bald wieder so sein wird, wie es früher war. Vielleicht wird es das sogar nie wieder sein. Die Katastrophe hat unser Leben unglaublich stark beeinflusst. In Zentral-Sulawesi gibt es zwar durchaus Gebiete, die sich nach und nach erholen. An anderen Orten ist die Zerstörung hingegen einfach zu gross. Damit die Leute dort wieder zu einem gewöhnlichen Alltag zurückfinden können – dafür reichen sechs Monate nicht aus.

 

Wo besteht momentan der dringendste Bedarf?

Psychologische Hilfe hat nach wie vor hohe Priorität. Insbesondere für Menschen aus schwer zerstörten Gebieten. Ich habe mit vielen Betroffenen gesprochen. Einige von ihnen trauen sich nicht mehr zurück in ihre alten Dörfer. Für sie ist das Erlebte zu traumatisch.

Frilly spricht mit einer Familie, die vom Erdbeben getroffen wurde.

Gibt es jemanden, dessen Geschichte dich besonders berührt hat?

Eine Frau, mit der ich gesprochen habe, erlitt während des Erdbebens eine Fehlgeburt. Sie heisst Sundari. Ihr Schicksal hat mich sehr berührt. Sie vertraute mir an, was ihr nach dieser schweren Erfahrung Kraft gegeben hat: Es war die bedingungslose Unterstützung ihrer Familie. Und ihr eigener Wunsch, nach der Katastrophe wieder ein geregeltes Leben führen zu können. Ich habe gelernt, dass es einfache, grundlegende Dinge sind, die Betroffenen nach einem Schicksalsschlag neue Hoffnung geben.

Sundari (35).

Gibt es etwas, was du der Welt mitteilen möchtest?

Ja, ich möchte sagen, dass wir in Palu sehr stark sind. Diese Katastrophe haben wir überstanden. Unser Leben ist im Moment nicht einfach – aber wir geben nicht auf. Wenn die Aufmerksamkeit in den internationalen Medien nachlässt, können Überlebende nach Katastrophen in Vergessenheit geraten. Das bedeutet aber nicht, dass wir in Palu keine Hilfe mehr benötigen, zum Beispiel beim Wiederaufbau unserer Häuser. Vor dem Erdbeben hatten wir ein normales Leben, genau wie ihr. Ich hoffe sehr, dass die Menschen uns weiterhin unterstützen werden – zum Beispiel, indem sie uns helfen, uns auf zukünftige Katastrophen besser vorzubereiten.

Frilly mit der achtjährigen Nur, deren Familie nach dem Beben von Medair unterstützt wurde.

 

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